Ich sammle Abfall vom Ufer. Aber keine Angst. Ich behalte ihn nicht für mich, ich lagere ihn bloss um. Von da, wo er nicht hinpasst, dahin, wo er von geübten Händen sachgerecht entsorgt wird.
Bei meinem geliebten, täglichen Rheinschwumm Schuhe tragen? Was für ein Unding! Ich will meine Füsse spüren. Spüren, wie das Wasser zwischen meinen Zehen hindurchströmt. Ich will die Steine, den Schlamm spüren. Ich will mich «erden». So meine Philosophie.
Doch eine unscheinbare Glasscherbe durchtrennte die Sehne des grossen Zehs. Das Versprechen, das ich vor der Notoperation dem Anästhesisten abgab, ein «aagfrässener» Rheinschwimmer, NIE mehr ohne gutes Schuhwerk ins Wasser zu steigen, erweiterte meinen Abfallhorizont! Mein Abfallsammeln ist viel mehr als ein Hobby! Es ist eine Leidenschaft, eine liebgewordene tägliche Gewohnheit, eine etwas andere Art der Meditation, eine Geistes- und Leibesübung, eine endlose Sisyphusarbeit und noch vieles mehr! Ich sammle seit meinem Unfall alles ein, was nicht ans Rheinufer und in die Natur gehört. Vier Wochen Arbeitsunfähigkeit mit allen unangenehmen Folgen, die das Gehen an Krücken mit sich bringt! Kochen, Putzen und einfachste tägliche Verrichtungen wurden zur Herkulesaufgabe. Ein guter Grund, sich nach diesem Ereignis eingehender mit Glas zu beschäftigen.
Ich freue mich immer wieder darüber, wie viele Menschen den Rhein als Oase der Erholung mitten in der Stadt für sich entdeckt haben. «Nimm dir jeden Tag die Zeit, still zu sitzen und auf die Dinge zu lauschen. Achte auf die Melodie des Lebens, welche in dir schwingt». So soll es vor langer Zeit ein Mann formuliert haben, der Jahre damit verbrachte, still unter einem Baum zu sitzen. Aber wo soll man sitzen, wenn überall Unrat herumliegt? Die wohltuende, heilende Wirkung des Wassers war der Grund, weshalb es mich seit über 20 Jahren an den Rhein zieht. Beim täglichen Gang entlang der immer gleichen Wegstrecke zur immer gleichen Zeit veränderte sich meine Wahrnehmung. Die Rhythmen der Natur wurden mir nach und nach bewusster. Das An- und Abschwellen des Abfalls im Wochen- und Jahreslauf und seine sich ändernde qualitative Zusammensetzung rückte genauso in mein Bewusstsein wie die Erkenntnis, dass auch ein teures Polohemd von Lacoste zum banalen Abfall mutiert, wenn es verdreckt im Geäst eines Strauches hängt. Dreck nervt. Mit dem Auflesen «fremden» Abfalles wuchs auch der Groll in mir über das unachtsame, egoistische Verhalten anderer Rheinnutzer. Nach einem längeren Gespräch über das Thema «Achtsamkeit» mit einer guten Freundin wurde mir klar: Beides muss weg! Sowohl der Dreck als auch der Groll. Ausgestattet mit Latexhandschuhen und Tüten, begann ich regelmässig und ganz gezielt auf meinem Weg den Unrat einzusammeln und ihn in den Kübeln der Stadtreinigung zu entsorgen. Die Sache mit dem Entfernen des Grolles gestaltete sich schwieriger. Material zum Üben gab es ja genug, und Zeit hatte ich auch. Das heisst, ich nahm sie mir sie mir und tue das noch heute. Ich lernte, mich «richtig» zu bücken, ruhiger und kontrollierter zu atmen, nicht an beängstigenden, frustrierenden oder egoistischen Gedanken festzuhalten, sondern sie einfach frei weiterziehen zu lassen. Ich fing an, mich nicht mehr nur als Beobachter all dessen wahrzunehmen, was sich ausserhalb meines Körpers abspielt. Ich begann mich vielmehr als Teil eines Ganzen zu sehen, und zu realisieren, wie sich alles im Wechselspiel gegenseitig beeinflusst und bewegt. «Nichts existiert isoliert für sich.» Das soll der Mann unter dem Baum auch noch gesagt haben.
Und so wurde ich also schliesslich zum Sammler, der ich auch heute noch bin. Ich übe mich täglich in Geduld, Nachsicht, Mitgefühl und Achtsamkeit. Ab und zu stosse ich auf aussergewöhnliche oder kuriose Fundstücke. Wenn diese in meinem Wickelfisch Platz haben, nehme ich sie mit nach Hause und lege sie auf meinem Balkon zu den anderen Kuriositäten. Wer weiss, vielleicht gestalte ich ja aus den Gegenständen einmal eine kleine Ausstellung. Damit auch andere Menschen darüber staunen können, was da so alles liegenbleibt.
Eines meiner Prunkstücke ist übrigens der im Text erwähnte «Mann unterm Baum», eine kleine Statuette aus Kunststein. Ich fand sie eines schönen Morgens halb im Wasser, an einer kaum zugänglichen Stelle. Sie steht seither auf meinem Balkon, auf dem Frühstückstisch. Schon einige Male hatte ich das Gefühl, der Mann mit dem herrlich dicken Bauch habe mir mit einem Auge leicht zugezwinkert, als wollte er sagen: «Mach weiter so. Du bist auf dem richtigen Weg.»
Marcel Mundschin