Clara Wittich und Imma Mäder leiten das Projekt «Halt Gewalt» gemeinsam. Sie sind für die operative Umsetzung der Projektziele zuständig und bauen zusammen eine Brücke zwischen dem staatlichen Gewaltschutzsystem, den Quartierorganisationen und der Zivilbevölkerung. Das mozaik hat mit ihnen gesprochen.
Wie lange arbeitet ihr schon zusammen im Projekt?
Imma Mäder hat 2022 mit der Erarbeitung des Projektauftrags begonnen und Clara Wittich wurde 2023 im Stadtteilsekretariat Kleinbasel angestellt, um mit den Umsetzungsarbeiten im Quartier zu starten. Seither teilen wir uns die Arbeit bei der Umsetzung der Projektziele.
Welche Aufgaben habt ihr?
Wir wollen die Bevölkerung sensibilisieren und das Thema «Häusliche Gewalt» weiter enttabuisieren. Wir bauen ein Netzwerk ausserhalb der Verwaltung auf. Dieses hilft mit, Angebote im Quartier besser mit den kantonalen Stellen im Bereich des Opferschutzes zu verbinden.
Um das zu erreichen, arbeiten wir mit verschiedenen Methoden: Wir versuchen möglichst niederschwellig Quartierbewohnende für das Thema häusliche Gewalt zu sensibilisieren und zu aktivieren. So beziehen wir verschiedene Angebote, aus dem Quartier mit in das Projekt ein, die das Thema wiederum weitertragen. Wir vernetzen Quartierorganisationen mit den Institutionen im Bereich häusliche Gewalt und organisieren fachliche Inputs für das Netzwerk. Auch im öffentlichen Raum sind wir immer wieder präsent und sprechen Passant:innen an. Letzten Juni haben wir beispielsweise eine aktivierende Befragung durchgeführt, über die wir mit 300 Personen ins Gespräch gekommen sind. Es ging darum zu erfahren, wie viel die Befragten über häusliche Gewalt wissen und wie sie reagieren würden, wenn sie davon in ihrem Umfeld mitbekommen. Weitere Kontaktmöglichkeiten mit der Quartierbevölkerung bieten öffentliche Aktionen, die wir zum Beispiel im Rahmen der 16 Tage gegen Gewalt an Frauen zwischen November und Dezember oder während der Aktionswoche «Halt Gewalt» im April organisieren. Ausserdem bieten wir Weiterbildungen rund um das Thema häusliche Gewalt und Zivilcourage an. Diese sind für alle interessierten Organisationen oder Vereine kostenfrei verfügbar. Über Social Media verbreiten wir ebenfalls Informationen zu dem Thema.
Betroffen?
Hier erhalten Sie Hilfe:
Opferhilfe beider Basel: 061 205 0910
Frauenhaus: 061 681 66 33
In akuten Situationen: Kantonspolizei Notruf: 117
Sozialdienst der Kantonspolizei Basel-Stadt: 061 267 70 38
Für Entlastung bei Gesprächsbedarf: Dargebotene Hand 143
Ihr habt sehr viele Kontakte mit Betroffenen und mit Anlaufstellen. Wie steht es um die häusliche Gewalt im Kleinbasel?
Häusliche Gewalt kommt überall vor, nicht nur im Kleinbasel. Wir haben uns entschieden, mit dem Projekt im Kleinbasel zu starten. Hier sind die Quartierstrukturen gut entwickelt. Viele Quartierorganisationen sind offen dafür, das Thema aufzugreifen und uns dabei zu unterstützen, eine klare Haltung gegen häusliche Gewalt im Kleinbasel zu etablieren. Häusliche Gewalt ist nach wie vor ein schambehaftetes Thema, zu dem sich die wenigsten Menschen öffentlich äussern. Auch wenn eine deutliche Mehrheit auf Nachfrage eine klare Haltung gegen häusliche Gewalt zum Ausdruck bringt. Mit dem Projekt soll sichtbar und erlebbar gemacht werden, dass eine Mehrheit der Bevölkerung Häusliche Gewalt verurteilt und sich dagegen einsetzen will.
Mit unserem Projekt wenden wir uns in erster Linie an das soziale Umfeld von Betroffenen. Durch niederschwellige Wissensvermittlung über das Gewaltphänomen häusliche Gewalt, über bestehende Beratungs- und Unterstützungsangebote sowie staatliche Interventionsmöglichkeiten soll die Quartierbevölkerung dazu befähigt werden, sich aktiv mit häuslicher Gewalt auseinanderzusetzen, anstatt sich hilflos und ohnmächtig zu fühlen. Indem das soziale Umfeld beispielsweise besser versteht, weshalb Betroffene in einer gewaltbelasteten Beziehung bleiben oder nur schon der Gedanke an eine Trennung zu Überforderung führen kann. Im Wissen um Hilfsangebote, die zur Verfügung stehen, kann das Umfeld eine unterstützende und vermittelnde Rolle einnehmen, ohne Betroffene zu bevormunden. So können Zugangshürden abgebaut werden. Unser Ziel ist es, dass alle Gewaltbetroffenen von dem Gewaltschutzsystem profitieren können, aber dafür müssen wir die Betroffenen erreichen.
Straftaten im Bereich der häuslichen Gewalt rückläufig
Häusliche Gewalt kann uns alle treffen
Wer sind die hauptsächlichen Opfer von häuslicher Gewalt?
Generell gilt: Häusliche Gewalt kann uns alle treffen, unabhängig von Herkunft, Alter oder sozioökonomischem Status. Auch wenn Gewalt zwischen Familienmitgliedern jeglichen Alters stattfinden kann, fokussieren wir uns im Projekt auf Gewalt in bestehenden oder aufgelösten Paarbeziehungen. Obwohl Männer auch von häuslicher Gewalt in der Beziehung betroffen sein können, sind es deutlich mehr Frauen, die vor allem schwere Gewalt erleben.
In welchen Formen tritt häusliche Gewalt heute vor allem in Erscheinung?
Studien schätzen, dass jede vierte bis fünfte erwachsene Frau in der Schweiz in ihrem Leben körperliche oder sexuelle Gewalt im häuslichen Bereich erlebt. Wenn wir die psychische Gewalt, wie Drohungen, Beleidigungen, Kontrolle, etc. dazu nehmen, werden es noch mehr.
Wie hat sich das Bild im Verlauf des Projekts verändert? Welche Wirkungen eurer Arbeit könnt ihr beobachten?
Das Projekt wird gerade extern evaluiert, deshalb warten wir gespannt die Ergebnisse ab. Wir erleben aber seit Beginn eine grosse Offenheit vieler Fachinstitutionen, Quartierorganisationen und Einzelpersonen, sich vertieft mit dem Thema häusliche Gewalt auseinander zu setzen und die Enttabuisierung weiter voranzutreiben.
«Halt Gewalt»
Das Projekt «Halt Gewalt» wird vom Justiz- und Sicherheitsdepartement und vom Präsidialdepartement getragen,
Im Lenkungsausschuss sind Fachpersonen aus beiden Departementen vertreten. Sonja Roest, die Leiterin der Abteilung Gewaltschutz und Opferhilfe, hat den Vorsitz des Lenkungsausschusses und begleitet die Projektleiterinnen auf fachlicher Ebene.
Clara Wittich und Imma Mäder sind die Co-Projektleiterinnen von «Halt Gewalt». Imma Mäder ist bei der Kantonspolizei angestellt und Clara Wittich beim Stadtteilsekretariat Kleinbasel.
Ein operativer Fachbeirat mit Mitarbeitenden aus der Kantons- und Stadtentwicklung und der Kantonspolizei sowie Theres Wernli, Co-Geschäftsleiterin des Stadtteilsekretariats Kleinbasel, stehen ebenfalls unterstützend zur Seite.
Das Projekt wird von staatlicher Seite vom JSD und PD finanziert im Rahmen von rund 750’000 Franken über vier Jahre. Ausserdem beteiligen sich in der Pilotphase das Eidgenössische Büro für Gleichstellung und die Jacqueline Spengler Stiftung, die Stiftung 3FO und die Bürgergemeinde Basel mit rund 400’000 Franken. Dieses Budget bezahlt auch die Arbeit einiger weiterer involvierter staatlicher Stellen und von dritten Personen. «Halt Gewalt» wird aber auch durch viel Freiwilligenarbeit unterstützt.
Das Projekt wird von der HSLU evaluiert, die Ergebnisse liegen bis Mitte 2025 vor.
Website: www.halt-gewalt.bs.ch
Instagram @haltgewalt
Wir haben den Eindruck, dass insbesondere zu psychischer Gewalt ein Sensibilisierungsbedarf besteht. Denn diese ist für Aussenstehende weniger gut sichtbar und dadurch auch weniger im Bewusstsein der Menschen. Psychische Gewalt kann sich beispielsweise in Form von Drohungen, Beleidigungen, Demütigung, Abwertung, Kontrolle, Arbeitsverbot, Kontaktverbot etc. äussern. Die Auswirkungen auf die Betroffenen sind mindestens gleich verheerend wie bei physischer Gewalt, wenn nicht noch schlimmer. Nicht selten kommen in einer gewaltbelasteten Beziehung alle Gewaltformen vor.
Was sind die Ursachen? Welche Rolle spielen Migrationshintergrund, Ausbildung, Arbeit usw.?
Die Ursachen von Gewalt sind divers. Pop-Ikonen wie Rihanna oder Tina Turner sind Opfer von häuslicher Gewalt, Armutsbetroffene ebenso wie Top-Manager:innen. Es gibt aber gewisse Risikofaktoren, die die Wahrscheinlichkeit, Gewalt zu erleben, erhöhen. Diese finden sich auf der Ebene des Individuums, des Paares, der Gemeinschaft oder Gesellschaft, in welcher man lebt. Einer der stärksten Prädiktoren für häusliche Gewalt ist Gewalterfahrung in der Kindheit – auch wenn die Gewalt nur zwischen den Eltern stattgefunden hat. Die Wahrscheinlichkeit selbst Opfer oder Täter zu werden, ist unter dieser Voraussetzung deutlich erhöht. Weitere Risikofaktoren sind grosse Machtgefälle in der Beziehung (ungleicher Bildungsstand, Sprachkenntnisse, Einkommenssituation), welche zu Abhängigkeiten führen. Aber auch Stressfaktoren wie Armut, Arbeitslosigkeit, ungeregelter Aufenthaltsstatus, Krankheit, Suchtprobleme oder einschneidende Ereignisse, wie Schwangerschaft und Geburt, können das Risiko für Gewalt erhöhen.
Eins eurer Ziele ist, die Zivilcourage zu fördern. Wie können wir erstens häusliche Gewalt erkennen und zweitens uns einmischen, wenn sich die Gewalt ja meistens hinter verschlossenen Türen abspielt?
Das mit den geschlossenen Türen stimmt. Aber häufig sind die Nachbarn die ersten, die etwas mitbekommen. In akuten Situationen raten wir hier, die Polizei einzuschalten. Denn dadurch kommt auch ein Hilfesystem in Gang. Es kann auch ratsam sein, die Situation durch Klingeln zu unterbrechen oder die betroffene Person so bald wie möglich nach dem Konflikt anzusprechen, wenn sie allein ist. Nichts tun und schweigen, schützt die Tatperson.
Wenn wir als Nachbarn keine konkrete Situation beobachten oder hören (Geschrei und Lärm in der Wohnung), dann gibt es trotzdem einige Anzeichen, die auf häusliche Gewalt hindeuten können, vor allem wenn sie in Kombination auftreten. Neben körperlichen Verletzungen, die ins Auge fallen können, gibt es auch Hinweise im Verhalten von Betroffenen und Tatpersonen. Zum Beispiel ständiges Überprüfen und Kontrollieren der Partnerin, extreme Eifersucht, Ausspionieren des Mobiltelefons, öffentliches Abwerten und kritisieren, sozialer Rückzug, Wesensveränderungen, erhöhte Schreckhaftigkeit oder Ängstlichkeit. Solche Beobachtungen können auf häusliche Gewalt hinweisen. Es lohnt sich in einem solchen Fall die betroffene Person anzusprechen und die eigene Sorge zum Ausdruck zu bringen. Ob der Aufhänger eine Einladung zum Kaffee ist oder nur gefragt wird „Wie geht es dir, mir ist aufgefallen, dass…, spielt keine Rolle. Wichtig ist neben dem Ansprechen und Zuhören, Verständnis für die gewaltbetroffene Person zu zeigen, sie im Prozess zu begleiten und dabei geduldig zu bleiben und keinen Druck aufzubauen. Wer eine Person begleitet, kann sich übrigens auch für Rat an die Opferhilfe wenden.
Was muss erreicht sein, damit ihr sagen könnt: Wir haben die Ziele erreicht und können uns einem andern Projekt zuwenden?
Wir haben uns als Ziele gesetzt, dass im Projektquartier eine klare Haltung gegen häusliche Gewalt etabliert ist und das Thema allgemein präsent und enttabuisiert ist. Das Umfeld von Betroffenen weiss, wie es reagieren kann, wenn es häusliche Gewalt erkennt. Durch die anhaltende Netzwerkarbeit im Quartier entstehen neue niederschwellige Zugänge zum Gewaltschutzsystem und allenfalls ergänzende informelle Unterstützungsangebote. So soll das Dunkelfeld verkleinert werden und auch schwer erreichbare Zielgruppen sollen Unterstützung erhalten.
Diese gesellschaftlichen Veränderungen brauchen Zeit. Deshalb setzen wir uns dafür ein, dass bei einer positiven Evaluation, wie beim ersten „Halt Gewalt“ Projekt, eine Überführung in die Regelstruktur möglich ist. Dafür braucht es Mittel für die Quartierorganisationen und eine Stelle, die die Netzwerkarbeit im Quartier nach der Pilotphase weiterführt.
«Halt Gewalt» wurde vor 25 Jahren als Pilotprojekt vom Kanton im Kleinbasel initiiert. Was waren die Ziele damals? Und was wurde erreicht?
Das Basler Interventionsprojekt «Halt Gewalt» wurde 1996 im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms NFP40 vom Gleichstellungsbüro zusammen mit dem Frauenhaus und dem Männerforum initiiert. Hauptziele des Projektes waren ein verbesserter Schutz der gewaltbetroffenen Frauen, die konsequente Inverantwortungnahme der Täter und das Stoppen der Gewalt im sozialen Nahraum. Massnahmen, die in der Pilotphase entwickelt wurden, wie der Runde Tisch «Häusliche Gewalt» zur Vernetzung von Behörden und privaten Institutionen, Weiberbildungsveranstaltungen für Behörden, ein Lernprogramm für Gewaltausübende, Informationsmaterial für die Öffentlichkeit oder der interkantonale Austausch gehören heute zur Regelstruktur. Aufgrund der positiven Evaluationsergebnisse wurde nach Abschluss des Pilotprojekts im Jahr 2003 eine staatliche Stelle geschaffen. Diese Stelle ist heute beim Justiz- und Sicherheitsdepartement in der Abteilung Gewaltschutz und Opferhilfe integriert. Diese hat auch das neue «Halt Gewalt» Projekt lanciert.
Dank des ersten «Halt Gewalt» Projektes und der darauffolgenden staatlichen Arbeit in den letzten zwei Jahrzehnten wurde ein Gewaltschutzsystem etabliert, das auf Netzwerkarbeit und soliden Gesetzesgrundlagen basiert.
«Basel-Stadt ist im Kampf gegen häusliche Gewalt gut aufgestellt», heisst es auf der Website zum Projekt. Warum ist das Projekt trotzdem nötig? Und was sind die aktuellen Ziele?
Es braucht immer noch sehr lange, bis Betroffene den Weg zum bestehenden Hilfesystem finden. Und es gibt Menschen, die wir nicht gut erreichen. Das Umfeld von Betroffenen weiss jedoch viel früher von der Gewalt. Das Verhalten von Nachbarn und Bekannten kann entscheidend dafür sein, dass Betroffene Veränderungen anstossen und durchziehen können. Unsere Umfragen und Analysen vor Start des Projekts und der aktivierenden Befragung zeigen, dass die Angebote des Systems noch immer zu wenig bekannt sind. Fast 40 Prozent kennen die Opferhilfe nicht, und viele empfinden das Thema als Tabu. Viele bringen mit dem Thema häusliche Gewalt nur körperliche Gewalt in Verbindung. Häusliche Gewalt ist weiter schambehaftet. Es ist für Betroffene sehr schwierig, sich aus der Situation zu befreien. Dafür braucht es Unterstützung von Freund:innen, Familie, Kolleg:innen. Ein Projekt, das sich gezielt an das soziale Umfeld richtet, gibt es bisher noch nicht.
Warum beschränkt sich das Projekt aufs Kleinbasel? Ist häusliche Gewalt in andern Stadtteilen kein Problem?
Doch, natürlich ist häusliche Gewalt auch über das Kleinbasel hinaus ein Problem. Das Projekt ist besonders zu Beginn stark auf die Zusammenarbeit mit bestehenden Quartierstrukturen angewiesen, um eine Multiplikationswirkung zu erreichen und schneller den Weg zur Bevölkerung zu finden. Hierfür gab es bei Projektstart die besten Voraussetzungen im Kleinbasel, wo es eine gute Infrastruktur an Quartierangeboten und etablierten Orte, wie beispielsweise das Stadtteilsekretariat Kleinbasel, gibt.
Ein bis zwei Polizeieinsätze pro Tag
Den weitaus grössten Anteil an den in Basel verübten Straftaten haben alle Arten von Diebstählen und Sachbeschädigungen. Das scheint auch die Menschen viel stärker zu beschäftigen als häusliche Gewalt. Richtet sich «Halt Gewalt» also nicht gegen einen Nebenschauplatz?
In Basel rückt die Polizei ein- bis zweimal täglich wegen häuslicher Gewalt aus, und vierzig Prozent der angezeigten Gewaltdelikte sind aus dem häuslichen Bereich. Die Dunkelziffer ist grösser. Laut Studien erlebt jede vierte bis fünfte erwachsene Frau in der Schweiz in ihrem Leben körperliche, oder sexuelle Gewalt. Alle zwei Wochen passiert in der Schweiz ein Femizid. Es ist oft unsichtbare Gewalt, aber nicht ein Nebenschauplatz. Es ist ausserdem leichter über einen Diebstahl oder Sachbeschädigung zu sprechen als darüber, dass man zu Hause Gewalt erlebt. Das Thema ist schambehaftet und deshalb auch weniger offensichtlich.