Susanne Zeugin sucht eine Antwort auf die Frage, wie der Gewalt vorgebeugt werden kann. Und findet sie in der Praxis der Achtsamkeit.
Die Gewalt ist da, nimmt zu, und vor allem im Kleinbasel gibt es Hotspots, wo die Quartierpolizist:innen viel und wahrscheinlich täglich zu tun haben. Was ich als Anwohnerin im Kleinbasel wahrnehmen kann, ist die veränderte Sprache, wie Menschen sich unterhalten. Immer mehr Kraftausdrücke, mehr Imperative und sehr viel mehr Imponiergehabe in der Wortwahl. Auch in der Körpersprache. Sogar schon bei Kindern. Das bekomme ich mit beim Einkaufen, vom Velo aus beobachtend, an der Kleinbasler Riviera oder im Park.
Wie kann Gewalt präventiv verringert oder verhindert werden? Das Gute und das Böse in einem selber kennen wohl alle. Auch die Wutausbrüche von Kleinkindern. Bei Pubertierenden gehört die Wut zur Abgrenzung gegenüber Erwachsenen. Doch, und jetzt wird es spannend, erwartet die Gesellschaft, dass die jungen Erwachsenen dies kontrollieren können. Aber wie, wenn sie dies nie gelernt haben? Nicht von den Eltern, nicht von der erweiterten Familie, nicht von Lehrpersonen und anderen Erwachsenen?
Selbstkontrolle ist lernbar
Es wird mir immer klarer, dass Gewalt nur durch bessere Selbstkontrolle und Selbstbeherrschung gehandelt werden kann. Und das ist lernbar! Gerade hier, schon sehr früh, könnte die Prävention einsetzen.
Bei diesem Gedanken kommt mir eine langjährige Bekannte in den Sinn. Sie hat Kinder im Alter meiner Kinder, und wir gingen manchmal am selben Ort in die Winterferien. Sie ist auch Therapeutin wie ich mit einer Praxis im Kleinbasel.
Und sie gibt Kurse: Stressbewältigung durch Achtsamkeit. Untertitel: dem Alltag mit mehr Gelassenheit und innerer Ruhe begegnen. Auf Englisch gibt es dafür eine Abkürzung: MBSR (Mindfulness-Based Stress Reduction). Christines Kursflyer (www.christine-manger.ch) entnehme ich, für wen diese Kurse geeignet sind. Zum Beispiel für Menschen, die negative Gedankenmuster wie Sorgen, Befürchtungen und Ängste erkennen wollen und somit motiviert sind, selbst dazu beizutragen, dass sich in ihrem Leben etwas ändert. Oder auch Menschen, die einen Umgang mit herausfordernden Lebenssituationen lernen möchten und vieles anderes mehr.
Ich habe Christine zu einem Interview getroffen. Sie hat sich in der Vorbereitung Gedanken darüber gemacht, was Achtsamkeit mit Gewaltreduktion zu tun haben könnte.
Christine: «Gewalt, wie ich das verstehe, kann physisch wie psychisch sein. Sie entsteht meist aus einem Moment der Überforderung, Überlastung und Unsicherheit heraus. Auch aus einem Schamgefühl heraus kann Mensch gewalttätig werden. Gewalt wird meistens reaktiv angewendet, das heisst, da ist ein Reiz oder Auslöser (z. B. das weinende Kind, das nicht zu beruhigen ist), und die Reaktion folgt unüberlegt und auch unbewusst, z. B. anschreien, schütteln, schlagen, weglaufen etc.). In der Gewaltanwendung nehmen sich die Ausübenden nicht mehr wahr und die Situation entgleist. Es ist ein unkontrollierbarer Moment auf allen Ebenen. Wir sind uns unserer Gefühle, Gedanken und Spannungen in diesem Moment nicht gewahr oder bewusst und handeln automatisch.»
Susanne: «Wie kommt der/die Gewaltanwendende wieder zur Wahrnehmung?»
Christine: «Das erste ist wohl überhaupt zu erkennen, was passiert. Also sich der Wut, Ohnmacht, Hilflosigkeit bewusst zu sein und sie auch wirklich wahrnehmen. Dort einen Moment innehalten und schauen, ob es noch andere Wege gibt. Es gibt diesen Leitsatz von Viktor Frankl, einem österreichischen Psychoanalytiker, der mich persönlich schon länger begleitet: ‹Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt unsere Macht zur Wahl unserer Reaktion. In unserer Reaktion liegen unsere Entwicklung und unsere Freiheit.›»
Susanne: «Gibt es Unterschiede zwischen weiblicher und männlicher Wahrnehmung?»
Christine: «Frauen spüren sich in der Regel besser, können wohl auch einfacher über ihre Gefühle reden und können sie auch vielleicht differenzierter benennen. Sie geben sich meist auch mehr Erlaubnis, Gefühle wie Scham, Trauer oder Enttäuschungen zuzulassen. In den Kursen erlebe ich aber bei beiden Geschlechtern, dass die ‹Trennung› von Geist und Körper stark da ist.
Wir wissen um Wut, aber wie sie sich anfühlt, sich ihr zuwenden ohne ins Handeln zu gehen, das ist oft sehr schwierig und braucht Mut.»
Christine ist auch der Meinung, dass schon in der Schulzeit damit angefangen werden soll. Mädchen bringen etwas anderes mit als Knaben. Beide Gruppen dürfen lernen, «nein» zu sagen. Doch dafür müssen sie zuerst ihre eigenen Grenzen kennen lernen.
Christine fährt weiter: «In der heutigen Zeit gibt es so viele Plattformen mit Unterhaltung und Ablenkungen. Diese lenken gerade von den eigenen Gefühlen ab. Es sind so viele Reize vorhanden. Diese müssen zuerst verarbeitet werden.»
Susanne: «In welchen Situationen müssen wir alle besonders aufpassen?»
Christine: «Es gibt das Akronym ‹HALT›, das ich in meinen Kursen gerne erwähne: Hungry, Angry, Lonely, Tired (hungrig, wütend, einsam, müde). Fühlen wir uns einsam oder müde, spüren wir, dass wir wütend werden oder sind, oder wenn wir schon lange nichts mehr gegessen haben, dann ist Vorsicht geboten bei unseren Reaktionen.»
Sein inneres Wetter kennenlernen
Susanne: «Wie müssen wir uns den Inhalt deiner Kurse vorstellen?»
Christine: «In den MBSR-Kursen machen wir uns durch verschiedenen Übungen (Body Scan, achtsames Yoga, Meditation) vertraut mit unseren Gedanken, Gefühlen und Körperempfindungen. In der Achtsamkeit geht es ja darum, aufmerksam zu sein für das, was gerade ist, ohne es zu beurteilen. Gerade das Nichtbeurteilen bringt mehr emotionalen Abstand. So lernen wir quasi unser ‹inneres Wetter› kennen.
Dies ermöglicht uns eine Art eigenes Frühwarnsystem zu entwickeln, gerade für Stresssituationen. Und so haben wir eine Wahl, um zu agieren und sind nicht ganz ausgeliefert. Ganz wichtig ist dabei, ein Mitgefühl für sich selber entwickeln zu können und auch die Selbstfürsorge zu stärken. Erst dann kann ich Hilfe von aussen annehmen.»
Susanne: «Mir bleibt die Frage, wo ich denn mit meiner Wut hingehen soll? Als Cholerikerin zum Beispiel: Ist die Wut unter Umständen ein Instrument, aus dem ich Kraft schöpfe?»
Christine: «Die Wut soll und darf sein. Aber der Umgang mit ihr ist entscheidend. Eine Grundhaltung der Achtsamkeit ist, alle Gefühle so sein zu lassen, wie sie gerade sind und sie so gut als möglich auch anzunehmen. Es ist ein grosser Unterschied, ob ich mir einen Moment den Raum gebe, um die Wut wahrzunehmen, z. B. als Hitze im Körper, oder viele Gedanken, sie bei mir lassen kann, vielleicht auch ausspreche, dass ich wütend bin, oder ob ich direkt und aus dem Impuls reagiere und vielleicht jemanden körperlich oder verbal verletze.
Dann kann ich vielleicht das Stehen im Stau gelassener erleben, weil ich meinen Ärger schneller und vor allem bewusst wahrnehme, ohne ihm gross Gewicht zu geben, respektive ihn zu beurteilen.
Einer der zentralen Punkte während des Kurses ist die regelmässige Praxis zu Hause, circa 30 bis 50 Minuten täglich unseren ‹Achtsamkeitsmuskel› zu trainieren und zu stärken.
In den Kursen sind Menschen allen Alters. Vermehrt melden sich auch Jüngere an, also 20- bis 30-jährige. Dort stelle ich fest, dass Angstgefühle und Panikattacken zunehmen. Um sich besser schauen zu können, sollte wirklich geübt werden. Erst dann kann wirklich Prävention stattfinden.»
Von Susanne Zeugin und Christine Manger