Aufbrüche ins Ungewisse

Surprise-Verkäuferin Jelena bei der Arbeit (Foto: Benno Gassmann)

Benno Gassmann bat Surprise-Verkäuferin Jelena fürs mozaik um ein Interview und erfuhr eine eindrückliche Lebensgeschichte. 

Bei Jelena kaufe ich seit Jahren regelmässig mein «Surprise Strassenmagazin». Schon lange fragte ich mich, welche Aufbrüche diese Verkäuferin, die da so geduldig vor dem Coop Klybeck sitzt, wohl hinter sich habe. Ich bat sie um dieses Interview.

mozaik Jelena, du sitzt seit Jahren hier für Surprise. Ist das lange Sitzen und Hefte anpreisen nicht oft etwas langweilig?

Jelena Nein, überhaupt nicht! Ich treffe immer wieder Leute, die mich grüssen, mit mir ein paar Worte wechseln. Und ich kann die Menschen, die ein- und ausgehen, beobachten und mir so meine Gedanken machen. Alle sind nett zu mir. Einige bringen mir Geschenke, etwas zum Essen oder Trinken. Surprise ist eigentlich meine «Tagesstruktur».

Interessant! Also anstelle einer bezahlten Anstellung? Darf ich fragen, warum du diese Freiwilligen-Arbeit machst?

Willst du meine Geschichte hören?

Ja, sehr gerne! 

Also ich komme ursprünglich aus Serbien. Bin 1960 dort geboren. Ich lebte aber seit meinem neunten Lebensjahr in Kroatien, genauer in Zagreb.

Ist deine Familie da umgezogen? Was war der Grund?

Ja, 1969 siedelten wir um. Der Grund war die Arbeit. Meine Eltern beschäftigten sich mit Textilien und eröffneten in Zagreb eine Boutique für Kleider, in dem dann auch ich als Verkäuferin mitarbeitete. 1999 gingen meine Eltern zurück nach Serbien und ich übernahm das Geschäft. Aber jetzt lebe ich schon seit 30 Jahren in Basel.

Was hat dich denn hierhergelockt? 

Meine Schwester, die schon länger in Zürich lebte. Sie kam wegen der Arbeit in die Schweiz. Wie viele meiner Landsleute in jener Zeit – das war damals noch Jugoslawien. Ich wollte sie wieder einmal sehen. Und da ist es passiert.

Nämlich?

Während meines mehrwöchigen Aufenthalts in Zürich traf ich einen jungen Mann, der mich faszinierte, und in den ich mich verliebte. Aldo war die grosse Liebe, und wir haben geheiratet. Dann habe ich mein Geschäft verkauft und bin mit meinen zwei Söhnen in die Schweiz gezogen. Das war 1995.

Spannend! Du hast zwei Kinder? Wie alt waren sie denn, als ihr hierherkamt? Und da wäre ja wohl noch ein Vater?

Die Kinder waren 17 und 18. Der Vater ist ein Ex-Freund von mir. Wir wohnten nicht zusammen. Ich lebte zusammen mit den Eltern und den Buben. 

Du wurdest also mit 17 Mutter eines Buben? Und ein Jahr darauf grad nochmals?

So ist es!

Hut ab! Das war wohl nicht ganz einfach für Dich?

Es war kein Problem. Die Eltern akzeptierten meine Schwangerschaften und die Kinder. Wir lebten gut zusammen. Und sie akzeptierten dann auch meine Entscheidung, wegzuziehen, und meine Heirat.

Und du hast Zagreb einfach so hinter dir gelassen?

Ja, denn Aldo war der Richtige. Arbeiten konnte ich hier auch, zuerst in der Reinigung, dann in einer Buchhaltungsfirma. 

Hast du noch Bindungen zur alten Heimat?

Nein, gar nicht. Ich war vor zehn Jahren das letzte Mal in Serbien. Aber meine Schwester in Zürich und ich besuchen uns immer wieder gegenseitig. Auch meine Söhne natürlich. Der Ältere hat eine Tochter, die Medizin studiert. 

Nun zurück zu dir und  dem jungen Mann: Ihr habt also geheiratet, Aldo und Du …

Ja, und leider wurde er sehr krank, er hatte Krebs und starb vor 24 Jahren. Im Jahr 2000.

Oh, das ist schlimm! Da hattet ihr grad fünf glückliche Jahre, die ihr zusammen leben durftet!

Ja, das war und ist sehr schlimm. Ich fiel in eine tiefe Depression. Ich fiel in ein riesiges Loch und konnte nicht mehr arbeiten. Aldo war sehr lieb. Er hat mir überall geholfen, bei der Sprache, bei den Gesetzen, der Verwaltung. Jetzt war ich völlig auf mich allein gestellt. Ich brauchte Hilfe, auch psychologisch und medizinisch.

Wie geht es Dir jetzt?

Seitdem ich bei Surprise bin, geht es mir besser. Wir VerkäuferInnen unterstützen uns gegenseitig. Man trifft sich im Surprise-Büro, redet miteinander. Es ist wie eine grosse Familie. Ich singe auch im Surprise-Chor, der sich im Union trifft. Und das Verkaufen gibt mir so etwas wie eine «Tagesstruktur». 

Vielen Dank, Jelena, für das Gespräch und guten Erfolg beim Verkaufen!


Benno Gassmann

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