Tobias Brenk wird im September der neue künstlerische Leiter der Kaserne. Er ist der Sohn eines Zollbeamten. Fürs mozaik hat er den folgenden Text verfasst:
Das Rattern des Super-8-Projektors im holzvertäfelten Wohnzimmer meiner Eltern klingt bis heute noch in meinem Kopf: Ich bin neun Jahre alt, als «die Mauer fällt», liege rücklings auf dem Teppichboden und starre auf die verwackelten Aufnahmen meines Vaters an der DDR-Grenze. Zur Erklärung: Mein Vater stammte zwar aus einer vertriebenen Familie aus Ostpreussen, aber er wurde Zollbeamter an der DDR-Grenze. Welch Ironie der Geschichte! Er arbeitete auf westdeutscher Seite, wo er oft mit seiner Kamera die Bewegungen hinter dem Zaun aufzeichnete. Sie zeigen zum Beispiel, wie ostdeutsche Kollegen (es waren ausschliesslich Männer …) alte Betonpfähle und den Stacheldraht ersetzten: vom Grenzturm und Bewachern beobachtet, die ihre Maschinenpistolen locker in der Hand halten. Die Bilder haben sich tief in mein Hirn gebrannt. So auch die Geschichte, wie ein DDR-Grenzer seine Hand aus dem Grenzwachturm streckt und meinem Vater einen Ehering an seiner Hand präsentiert. Der Kollege im Osten hatte anscheinend geheiratet. Es war eine wortlose und verbotene Kommunikation zwischen zwei Systemen über die Grenze hinweg.
Grenzen haben mein Leben begleitet. Aufgewachsen bin ich in Aachen, einer Stadt, die wie Basel an einem Dreiländereck liegt. Mit dem Fahrrad erreicht man dort in wenigen Minuten die belgische Grenze und etwas weiter ist man schnell in den Niederlanden. Aachen war die Wahlheimat meiner Eltern, denn nach der Zeit an der DDR-Grenze wurde mein Vater dort gegen den Drogenschmuggel eingesetzt. Seine Arbeit führte regelmässig zu heissen Debatten zwischen uns: «Wie entscheidest Du, wen Du kontrollierst oder anhältst?», «Es ist rassistisch, wenn du dauernd Personen kontrollierst, die nicht weiss sind!» Wir diskutierten den strukturellen Rassismus beim Zoll und in der Polizei rauf und runter. Mit meiner stärker werdenden Pubertät verlief die Grenzlinie dann nicht mehr zwischen Deutschland und den Niederlanden, sondern quer über unseren Esstisch. Unsere Ideologien knallten aufeinander, und das gegenseitige Unverständnis bohrte sich tief in unsere Familie hinein. Mein Vater, Verteidiger der Idee der gerechten Bundesrepublik, war trotz der Fluchtgeschichte seiner Familie fest davon überzeugt, dass sein Handeln immer aufrichtig und fair war. Ich zog hingegen dauernd den Staat und die Entscheidungsgrundlagen meines Vaters in Zweifel. «No Borders, No Nations» gab es damals nicht als Slogan – ich hätte ihn aber wohl gross auf einem Laken in meinem Zimmer aufgehängt.
Diese Erfindung von Grenzen, die habe ich nie wirklich verstanden. Was ist dieser Strich da zwischen uns Nachbar:innen? Diese Linie, die keine Linie ist, sondern eine Unterscheidung von Regeln und Gesetzen. Als zukünftiger Künstlerischer Leiter der Kaserne ist es meine Aufgabe, Grenzen zu hinterfragen, die wir (auch in Kulturinstitutionen) unabsichtlich aufrechterhalten. Im Theater sprechen wir manchmal von der «Vierten Wand». Die Vierte Wand ist die unsichtbare Wand, die die Bühne nach vorne zum Publikum begrenzt. Im Naturalistischen Theater tat man dann auf der Bühne einfach so, als wäre da draussen niemand. Die Wirkung des Theaters war dann angeblich am stärksten, wenn man unter sich bleibt und die Zuschauer:innen ignorierte. Manchmal denke ich, die Schweiz kann mit ihrer vierten Wand zur EU ganz beeindruckend gut Naturalistisches Theater performen und so tun, als wäre da draussen niemand. Umso mehr ist es mir als neuer Leiter der Kaserne wichtig, dass wir für unsere Nachbar:innen in der Region und für die Menschen unseres Quartiers Sorge tragen – und die vierte Wand immer wieder neu durchbrechen. Wir glauben daran, dass die Geschichten unserer Künstler:innen mehr zu sagen haben als der klassische Theater-Kanon und sind davon überzeugt, dass die Kaserne andere Themen in die Basler Gesellschaft einbringen muss. Wir wollen auch, dass sich mehr Basler:innen leisten können, ins Theater zu gehen. Deswegen könnt Ihr in der Kaserne selbst wählen, wie viel Ihr für ein Theater-Ticket zahlen möchtet: 35, 25 oder 15 Franken: Ihr zahlt, was ihr euch leisten könnt und setzt eure eigene Grenze. So arbeiten wir in der Kaserne daran, ein Ort für viele zu werden und inklusiver zu sein – damit wir unsere eigenen Grenzen im Kopf erkennen und sie überwinden. Wir sind sicher nicht perfekt dabei, aber wir versuchen es.