«Kommst du mit zu einer der Proben unseres Chores?» frage ich Aischa, meine kurdische Freundin. «Aber ich nicht Noten lesen. Wie soll ich in Schweizer Chor singen?» antwortet sie. «In meinem Chor musst du weder Noten lesen noch korrekt Deutsch sprechen», sage ich ihr. «Aber für Chorsingen muss ich können», widerspricht sie. «Nein, das muss man in meinem Chor nicht», ermuntere ich sie. Sie schüttelt erstaunt den Kopf. «Hast du in deiner Heimat Musik gehört, Lieder gesungen und zur Musik getanzt?» frage ich. «Aber natürlich! Musik, Gesang und Tanz typisch für unsere Kultur. Und ohne Musik kein Leben, sagen alte Leute», antwortet sie. Ich überlege einen Moment und sage: «Hier in der Schweiz ist es doch genauso und unser Chor ist halt etwas Spezielles. Lass dich überraschen und komm doch einmal mit!» sage ich.
Chorproben
Nach zwei Wochen sagt Aischa: «Heute ich mit in Chor.» Ich freue mich, und wir fahren gemeinsam zu dem Gemeindesaal, in dem die Proben stattfinden. Als wir den grossen Raum mit dem Flügel betreten, sind schon viele Männer und Frauen da, die miteinander reden oder Stühle aufstellen. Magdalena aus Ungarn kommt auf uns zu und begrüsst uns. Als die Sänger und Sängerinnen auf ihren Plätzen sitzen und der Chorleiter Bernhard Furchner alle begrüsst hat, stellt Magdalena Aischa als interessierte Sängerin vor. Aischa steht mit Herzklopfen auf und befürchtet, dass sie nun vorsingen müsse und sich vor aller Augen und Ohren blamieren würde. Aber nichts von ihren Befürchtungen wird wahr, alle klatschen und lachen ihr freundlich und aufmunternd zu. Von Vorsingen keine Spur!
Beim Einsingen macht sie mühelos mit. Von Mariann, der Notenverantwortlichen bekommt Aischa eine Mappe mit Noten und Texten in die Hand gedrückt. Heute ist neben einem spanischen und ukrainischen ein chinesisches Lied dran. Die Aussprache und Bedeutung des chinesischen Liedes ist auf einem Blatt, und auch ein Notenblatt mit dem chinesischen Text gibt es. Zum Glück nicht in chinesischer Schrift! Bernhard erklärt das Lied und seine Bedeutung. Zuerst werden langsam und rhythmisch die einzelnen Zeilen des chinesischen Textes gesprochen, solange, bis man die paar Zeilen relativ flüssig sprechen kann. Dann kommt zu den Zeilen die Melodie. Immer wieder übt er mit dem Chor diese Melodie, verbessert den Rhythmus oder die Tonhöhe. Aischa ist erleichtert, dass sie mit den Ohren lernen kann und nicht wie befürchtet Noten lesen können muss. Nach einer Weile tönt dieses fremdländische Lied schon ganz vertraut in ihren Ohren. So geht es weiter mit den anderen Liedern. Bernhard ermuntert alle, nicht wie Buchhalter, die die Bilanz studieren, auf das Blatt zu stieren und macht das so humorvoll vor, dass alle in Lachen ausbrechen. Auch bei den Tänzen oder rhythmischen Passagen eines Liedes staunt Aischa über seine tollen Beispiele. «Wenn ihr keine Noten lesen könnt, so hört dem Nachbar oder der Nachbarin rechts und links zu und summt mit. Und wenn ihr nicht genügend Deutsch könnt, singt einfach zuerst einmal Lalala. Mit der Zeit werden Melodie und Text zu euch kommen, und am Ende könnt ihr beim Konzert beides. Sogar das Tanzen lernt ihr mit der Zeit auch, denn die Füsse gehören einfach zum Gesang», schliesst Bernhard.
Konzert
Ein dreiviertel Jahr später hat Aischa zum Konzert in der Pauluskirche ihre schöne kurdische Tracht angezogen. Sie bewundert die Sängerin mit der glänzenden chinesischen Tracht, die einen Solopart singen wird. Olga, die junge Ukrainerin mit den blonden Haaren und der gestickten Tracht und auch Dejan mit seinen weiten Hosen und dem Käppi der bulgarischen Tracht sind da. Das kleine Orchester ist schon auf der Bühne; der rund 60-köpfige Chor steigt langsam auf die Podeste. Der Chorleiter konzentriert sich, und das zahlreiche Publikum hält für einen Moment den Atem an. Dann fängt das Konzert an. Aischa ist ganz bei der Sache und singt begeistert alle Lieder, die sie gelernt hat mit. Musik, Gesang und Tanzeinlagen wechseln einander ab. Am Ende steht das Publikum auf und applaudiert. Für Aischa, die ihre Familie und ihre Freunde zum Konzert eingeladen hat, ist das Singen eine Riesenfreude, und sie ist glücklich, zu dieser bunten Chorfamilie zählen zu dürfen.
Willst du mitsingen im Chor der Nationen? Nimm Kontakt auf: Tel. 079 376 99 19 oder mwoz@bluewin.ch
Text: Dragica Marcius
Danke für diesen erquickenden, fröhlichen Moment, den Dragica Marcius durch Ihren Text uns geschenkt hat! Es ist genau so, wie sie beschreibt. Und ich freue mich schon auf die nächste Probe am Donnerstag mit diesen singenden, bunten, vitalen und herzlichen Menschen!
Super geschrieben Dragica. Und genau so ist es auch im Chor.