Dragica Marcius befragte fürs mozaik Passanten, wie sie Gewalt erleben und was sie sich im Bezug auf Gewalt wünschen.
Ich schaue am Rheinbord bei den Buvetten, welche Personen für ein Interview zum Thema in Frage kämen und gehe an Tischen oder Bänken vorbei. Erstaunt bin ich darüber, dass mir viele ein Interview geben wollen. Ich entscheide mich für drei junge Leute, die sich mit glitzernden Steinen im Gesicht für den nachmittäglichen Umzug der Street Parade geschmückt haben. Ein junger Mann, leger gekleidet, sitzt mit drei geschminkten jungen Frauen auf einer Bank. Ich stelle drei Fragen an alle:
- Was bedeutet für Sie Gewalt?
- Erleben Sie persönlich Gewalt in Ihrem Umfeld?
- Was würden Sie sich persönlich in Bezug auf Gewalt wünschen?
Chris, Elektriker auf dem Bau (32) Gewalt und Mobbing ist heute überall anzutreffen, auchim Beruf. Ich arbeite auf dem Bau. Dort herrscht ein rauer Umgangston. Der Vorarbeiter oder Polier wirft, wenn einer der Portugiesen oder andere, die wenig Deutsch können, nicht alles richtig gemacht haben, oft in jähzorniger Wut mit Werkzeug um sich. Man muss in Deckung gehen, will man keine Fräse oder Bohrmaschine an den Kopf bekommen. Ich würde mir mehr Ruhe und Gelassenheit in der Kommunikation wünschen. Dass der Polier ruhiger bleiben würde, mehr und langsam erklären würde, bis alle verstanden haben, was zu tun ist. Aber mit den Terminvorgaben der Architekten, dem Wetterdruck und dem allgemeinen Druck auf dem Bau geht das schlecht zusammen.
Tina, Sozialarbeiterin (27) Ich arbeite als Sozialarbeiterin und begegne auf Schritt und Tritt Gewalt. In der Familie, unter den Kindern, Teenager rasten aus, Gewalt von gestressten Lehrern. Ich kenne als Sozialarbeiterin die vor kurzem in Basel von einem psychisch kranken Mann getötete Frau. Das hat mich schockiert und mir auch Angst gemacht. Ich erlebe auch schlechtes Gewaltmanagement von Lehrern, die mit renitenten Jugendlichen umgehen müssen und völlig ausrasten. Ich würde mir einen besseren Umgang mit dem Umfeld des Mordopfers durch die Polizei wünschen. Aich eine zuverlässige Überwachung von gewalttägig gewordenen und vorbestraften Tätern, damit so etwas wie der Mord an dieser Frau nicht mehr passieren kann.
Sonja, Mutter eines Neugeborenen (40) Gewalt bedeutet für mich das Ungleichgewicht zwischen der Macht des Stärkeren gegenüber der Macht des Schwächeren. Sie ist für mich bedrohlich. Zurzeit erlebe ich keine Gewalt in meinem Umfeld. Aber ich habe als Kind sehr viel emotionale Gewalt erlebt in Form von Dominanz gegenüber mir als Kind. Die Grossmutter hatte einen rauen Charakter und bestrafte mich mit Liebesentzug. Das war schrecklich für mich. Ich wünsche mir, dass in der Schule und in der Erziehung mehr Respekt gelehrt wird und dass das Kind schon früh emotionale Kompetenz bekommt und sich wehren kann.
Katrin, pensionierte Lehrerin (69) Körperliche Gewalt und Verletzung der Seele sind für mich Formen der Gewalt. Aber auch die klimatischen Veränderungen. Sie sind letztendlich vom Menschen verursacht, und so bekommen wir auch Gewalt von der Natur zurück. Nein, gegenwärtig erlebe ich überhaupt keine Gewalt. Aber als Lehrerin war ich früher Gewalt und Mobbing ausgesetzt. Ein renitenter Schüler hat mir und einer anderen Lehrerin ins Gesicht gespuckt. Mir ist reflexartig die Hand ausgerutscht, ich habe ihm eine Ohrfeige gegeben. Das gab später schlimme Briefe und ein böses Mobbing für mich. Ich wünsche mir mehr und bessere Aufklärung über Gewalt in den Schulen, in den Kindergärten und Spielgruppen. Es sollte «Elternschulen» geben, in denen die Eltern lernen, richtig mit den Kindern umzugehen.
An der Dreirosenbuvette sitzen zwei freundliche Männer, Alex, 49, aus Österreich, und Steven, 69, aus Britannien. Sie stimmen einem Gespräch sofort zu. Sie laden mich an ihren Tisch ein und holen uns etwas zum Trinken.
Alex, Schreiner und Ausstatter für Luxusflugzeuge (49) Gewalt findet man heute überall. Nicht nur physische, sondern auch sehr viel psychische. Der Machtmissbrauch während der Coronazeit, in der Autoritäten Zwänge ausübten, sollte nicht vergessen werden. Heute zetteln Politiker Kriege in den ärmsten Ländern an, um an der Macht zu bleiben. Sogar in unseren Berufen als Schreiner gibt es genug Gewalt. Wir statten Luxusflugzeuge der Reichen und Superreichen aus. Das ist doch Gewalt, denn die Reichen können sich alles leisten und die Armen hungern. Mein Kollege Steven aus England und ich haben drei Jahre in Dubai gearbeitet. Sie können sich nicht vorstellen, was es dort für eine Gewalt unter den Arbeitern, den Auftragnehmern und den grossen Unternehmern gegeben hat. Im beruflichen Umfeld erlebe ich Gewalt von den Vorgesetzten. Sie haben die Macht und wollen ihre Meinung mit allen Mitteln, ohne die Mitarbeiter zu fragen, durchsetzen. Als Mitarbeiter hat man keine Chance. Meistens wird die Erfahrung und Meinung der Angestellten überhaupt nicht respektiert und die Firma setzt Geld in den Sand. Erziehung zur Ehrlichkeit ist wichtig. Und grundsätzlich Konsensfähigkeit und Gewaltfreiheit. Aber Gewaltfreiheit wird es wohl nie geben.