von Christian Platz
Als ich vor 30 Jahren ins Matthäus-Quartier gezogen bin, da gab es am Rhein unten wenige Sitzgelegenheiten und zum Wasser führte ein recht abschüssiges Bord. Die Anlage neben der alten Dreirosenbrücke war eingezäunt, ein Sportplatz. Im Sommer sass ich oft mit einem Buch auf einem der Bänkchen am Rhein. Manchmal sah ich dort noch Studentinnen, Studenten, die aus dicken Leitz-Ordnern und farbigen Mäppchen lernten. Es war ein Ort der Ruhe.
«E harti Stadt»
Das war die Bänggli-Kultur von damals. Gleichzeitig beschäftigte uns im Reporterteam der «Basler Zeitung» am Barfüsserplatz Mitte der 1990er Jahre die Strassengewalt in der Stadt, die Heroinszene, eine Galerie menschlicher Tragödien am Rheinbord, die sich oberhalb der Mittleren Brücke auf den Stufen breit machte, oder die jungen Gangs, die ihre Kämpfe in der Steinenvorstadt austrugen. Für uns aufgeregte junge Reporter und für jenen Teil der Leserschaft, der sich gerne vor Missständen gruselt, und sagt, dass alles immer schlimmer wird, waren dies Symptome eines kulturellen Zerfalls. Basel war damals gewiss keine friedliche Stadt, lag jedoch – was Gewalt und Konflikte im öffentlichen Raum anbelangt – eher unter dem Durchschnitt europäischer Städte vergleichbarer Grösse. Aber für Schweizer Verhältnisse war sie eher, wie die Teenager der 1980er und 1990er Jahre schon gerne sagten: «e harti Stadt». Nebst der Innerstadt betraf dies auch das tiefste Kleinbasel, also unsere Nachbarschaft und die angrenzenden Quartiere. «Säll Sindebaabel dert äänen am Rhy», wie die Grossbasler Grossbürger es einst nannten.
Durch die Industrie geformt
Ja, dieses kleine rechtsrheinische Sündenbasel. Noch in den 1860er Jahren gab es im Matthäus und im Klybeck kein Quartiere, bloss verstreute Höfe und Häuser, die den Weg ins Dorf Kleinhüningen säumten. Es war die Industrie, die diesen Teil des Kleinbasels ab 1870 formte. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wurden grosse Seidenfabriken und Färbereien gebaut. Diese zogen zunächst Baselbieter Heimarbeiter scharenweise ins Glaibasel. Alsbald folgten Leute aus Bern und der Ostschweiz, aus Deutschland und dem Elsass, die dann wiederum misstrauisch die Zuwanderer aus dem Tessin und Italien beobachteten, welche als Erste einen Hauch Südeuropa in den Mix brachten.
Aus vielen dieser Zugewanderten wurden mit der Zeit Basler Familien, die sich heute ganz selbstverständlich mit unserer Stadt identifizieren.
Doch damals misstrauten die Bürger den Neuankömmlingen. Sie hätten einen schlechten Einfluss auf unsere Kultur, seien hinter den Frauen her, promiskuitiv und würden schnell handgreiflich. Das untere Kleinbasel, mit seinen Arbeitersiedlungen, das obere Kleinbasel, mit seinen Spelunken und Prostituierten, wurden von den linksrheinischen Nachbarn mit Misstrauen betrachtet. Dies lag auch daran, dass es im minderen Basel nicht so protestantisch zuging, wie es in dieser Stadt lange Zeit ortsüblich war. Dazu kam der Umstand, dass die Leute im minderen Basel nicht wohlhabend genug waren, um gutsituierte Bürgerinnen und Bürger zu werden. Doch natürlich mehrten auch sie den Wohlstand der Stadt …
Armut und Gewalt
Gewaltverzicht ist eine Kulturleistung. Wer keinen Anschluss an die Gesellschaft findet, von Armut betroffen, sozial nicht eingebettet ist, nicht angehört und ernst genommen wird, keine Chancen hat, kann diese Leistung manchmal nicht vollbringen – oder kann sie sich wegen des Umfelds schlicht nicht leisten. Armut im Kontext einer allzeit sichtbaren Wohlstandsgesellschaft ist die Mutter der Gewalt, sie gebiert Konflikte, bringt Neid, Gier, Misstrauen. Dies alles war ein Teil des alten Glaibasel. Nebst der Fröhlichkeit, dem «Lebensmut trotz allem», der kulinarischen Vielfalt, der katholischen Lebenskultur, die mit der Zeit in der Mitte der bürgerlichen Gesellschaft ankamen und heute (wieder) ganz selbstverständlich zu unserer Stadt gehören. Dieser letzte Absatz könnte auch eine Beschreibung unseres zeitgenössischen Kleinbasels sein.
Die Rolle der JuAr Basel
Ich bin Präsident der JuAr Basel, der grössten Organisation, die in unserer Stadt Offene Jugendarbeit betreibt, in 21 Angeboten. Seit 2006 gehöre ich dem Vorstand der Jugendarbeit Basel an, die damals noch Basler Freizeitaktion (BFA) hiess. In jenem Jahr haben wir das Jugendzentrum sowie die Freizeithalle Dreirosen sowie das RiiBistro eröffnet. Die beiden Letzteren durfte unsere Organisation aus komplizierten staatlich-bürokratischen Gründen zunächst nicht führen.
Also gründeten wir einen Mini-Verein, bestehend aus drei Personen, zu denen ich gehörte. Dieser führte das Angebot sechs Jahre lang, bis es uns erlaubt wurde, die Halle in die JuAr Basel zu überführen. Seit ihrer Geburtsstunde wird die Halle von Marc Moresi geführt, einem Mann, der erfolgreich, gewandt und hochanständig in einem herausforderungsreichen, multikulturellen Milieu agiert. Menschen, die aus Dutzenden Ländern und Kulturen stammen, nutzen unsere Angebote im Brückenkopf und die angrenzende Anlage. Ein hochinteressantes und quicklebendiges Umfeld, das manchmal Konflikte birgt, was auch die Leute von der JuAr Basel seit Jahren massiv zu spüren bekommen. Die Zone mit den Bänggli oberhalb der Brücke ist ein lauter Ort geworden, eine Art dauerüberfülltes Gratisfreibad am Rhein, das manchmal auch gefährlich sein kann.
Multikultureller Treffpunkt und Herausforderungen
Die Anlage, die unseren Brückenbau umgibt, ist ein wichtiger multikultureller Treffpunkt. Familien, Sportler, Leute aus allen Altersgruppen nutzen hier eine der raren Grünflächen eines Quartiers, das die höchste Bevölkerungsdichte und eine der tiefsten Einkommensraten unserer Stadt ausweist. Gleichzeitig ist der Ort ein vielbeachteter und -beklagter Drogen-Hotspot. In dessen Zentrum steht eine Szene, bestehend aus chancenlosen Menschen aus verschiedenen Kulturen, viele mit traumatisierendem Fluchthintergrund, oft sehr jung, chancenlos, arbeitslos, brotlos, gestrandet – eine konfliktträchtige Lebenssituation, die auch Gewalt hervorbringt. In Basel gibt es für diese Menschen keine Treffpunkte, keine Anlaufstellen, keine professionelle Begleitung durch Sozialarbeitende, wir sparen uns das. Wir lassen diese Menschen hängen – und geben ihnen keine Gelegenheit, in unseren Gesellschaftsvertrag einzusteigen. Das hat Folgen. Eine davon heisst Gewalt.
Christian Platz ist freischaffender Autor und Präsident der Jugendarbeit Basel.