Öffne am Morgen dein Fenster, und der Start in den Tag wird dir gelingen.
Neulich bin ich über folgenden Satz gestolpert: Es ist wichtig, wie man einen Tag startet und wie man ihn beendet. Das mag wohl stimmen. Ohne einem weiteren gut gemeinten Imperativ zum Opfer zu fallen, konnte ich es mir irgendwie doch nicht nehmen, einmal kurz über meine Morgenrituale nachzudenken: Wie starte ich meinen Tag eigentlich so?
Routinen sind vor allem dann schön, wenn sie auch mal gestört werden dürfen oder sie unerwartete Gesellschaft bekommen – wie z. B. das morgendliche Erwachen mit einem lebhaften, gut gelaunten, tirilierenden, zirpenden, jubilierenden Vogelgezwitscher! Was für eine Wohltat.
Zu meiner grossen Freude stelle ich fest, dass seit einigen Wochen die singenden Freunde wieder im Lande sind und auch unserem Innenhof die Treue gehalten haben. Es ist schon erstaunlich, dass so ein kleines Wesen eine Lautstärke von bis zu ca. 90 Dezibel hervorbringen kann. Das entspricht der Lautstärke eines Presslufthammers, ist aber weitaus angenehmer.
Der Vogelgesang war für viele Komponisten eine Inspirationsquelle. Unter ihnen gab es mehrere grosse Vogelfans. Einer davon war Olivier Messiaen (1908 – 1992), ein französischer Komponist, Kompositionslehrer und Organist. Messiaen war im Jahr 1940 als wehrdienstverpflichtetes Mitglied eines Militärorchesters in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten, konnte aber bereits ein Jahr später nach Paris zurückkehren.
Er war ein Künstler des Zuhörens. Die von den Vögeln inspirierte Sehnsucht nach Freiheit, nach Schwerelosigkeit muss für Messiaen damals etwas Tröstliches gehabt haben. Das Fundament seines Schaffens ist der Gedanke einer musikalischen «Sprache des Glaubens» (Siglind Bruhn), denn, so Messiaen: «Alle meine Werke, ob religiös oder nicht, sind ein Akt des Glaubens.»
Später zeichnete er auf Weltreisen Vogelrufe auf und verwendete diese in Klavier- und Orchesterwerken sowie in seiner Oper «Saint François d’Assise». Rund 700 Vögel konnte Messiaen an ihrer Stimme erkennen – er nannte sie «die grössten Künstler unter den Lebewesen». Seinerseits dürfte Messiaen der grösste Künstler des Zuhörens gewesen sein!
Gerade packt mich die Lust, auch meine Vogelkenntnisse zu erweitern, um den vielfältigen Gesängen das jeweils passende Flügelkleid zuordnen zu können.
Wenn der Zweifel sich schon in unsere morgendlichen Gedanken einnisten möchte und Sprichwörter wie «Du sollst den Tag nicht vor dem Abend loben» sich absichtlich oder auch versehentlich-unbewusst aus falschen Gewohnheiten in unseren Wortschatz einschleichen, so sollten wir es Messiaen gleichtun, denn dann hilft tatsächlich nur noch die Sprache des Glaubens.
Ich komme zu der Feststellung, dass es für das schönste Morgenritual ausreicht, das Fenster zu öffnen und die Ohren auf dem Weg zur Arbeit von Ohrstöpseln und anderen auditiven Beeinträchtigungen zu befreien. Die Schule des Zuhörens beginnt also mit dem morgendlichen Erwachen und auf dem Weg zur Arbeit. Und wer, bitte schön, möchte kein guter und vor allem aufmerksamer Zuhörer sein?
Jerusalem Ilfu