Dinah Hess ist Gefängnisseelsorgerin im Bässlergut. Das bringt die Pfarrerin mit vielen Grenzen in Berührung – auch ihren eigenen.
Für die Insassen des Gefängnis Bässlergut ist der Bewegungsspielraum nicht nur durch Mauern beengt. Auch Hausordnungen, Merkblätter und Checklisten bestimmen den Tagesablauf bis ins Detail. In der Enge, unter Dauerbeobachtung und umgeben von Fremden, kann einer schon einmal trübsinnig werden. Dann ist Dinah Hess da. Die Pfarrerin ist die Gefängnisseelsorgerin im Bässlergut.
Dinah Hess arbeitet einmal pro Woche im Bässlergut und zweimal im Waaghof. Der Arbeit im Gefängnis beginnt um neun, von elf bis zwei ist Mittagspause. Sie pendelt von Zürich nach Basel, kommt mit dem Zug vom Bahnhof SBB zum badischen Bahnhof und spaziert durch die Langen Erlen. Der Arbeitsweg durch die Langen Erlen ist schön. «Umso härter ist der Kontrast zwischen dem paradiesischen Draussen und dem nüchternen Drinnen, hinter Beton und Milchglas.».
Mit was für Sorgen kommen die Menschen hinter Gittern zu ihr?
Dinah Hess
Dinah Hess studierte Theologie an der Universität Bern. Das letzte Studienjahr verbrachte sie in der südindischen Metropole Bangalore und schloss mit einer Masterarbeit über das indische Kastensystem ab. Die kirchliche Ausbildung absolvierte sie wiederum in Bern. Dann folgten sieben Jahre im Zürcher Zentrum für Migrationskirchen und als Gemeindepfarrerin. An der Uni Bern machte sie die Weiterbildung zur Gefängnisseelsorgerin. Seit Dezember 2021 ist sie zu 50 Prozent Gefängnisseelsorgerin in den Basler Gefängnissen Waaghof und Bässlergut und zu 30 Prozent Gemeindepfarrerin.
Es sind Erstmalige, die sich an den Gefängnisalltag gewöhnen und ihn akzeptieren müssen. Den einen gelingt dies schneller als den anderen. Einige befinden sich im vorzeitigen Strafvollzug. Sie haben noch kein Urteil. Und wissen damit auch nicht, wann sie entlassen werden. Das ist quälend. Einige vermissen ihre Familien, andere haben Streit mit ihren Angehörigen. Oder stehen unter Druck, weil sie ihren Angehörigen kein Geld überweisen können. Manchmal wird sie gebeten, einen Bibeltext vorzulesen. Die Konfession spielt nicht so eine Rolle. Auch ein Muslim habe sie schon um ein Gebet gebeten. «Es gibt aber auch solche, die keine Lust haben zu arbeiten oder etwas Abstand brauchen von den Mithäftlingen», sagt Dinah Hess.
Ein Lichtblick im Gefängnisalltag
«Wir – die Aufseher:innen und ich – repräsentieren die Normalität. Die Leute drinnen haben keine Wahl, wir öffnen eine Fenster.» Sie habe keinen Auftrag von der Institution, sondern sei von der Kirche angestellt. Sie müsse keine Berichte schreiben. Und unterstehe der Schweigepflicht. Im Gefängnis können man praktisch nichts mehr wählen, ausser bei der Gefängnisseelsorge. «Ich biete ein Stück Freiheit und auch etwas Abwechslung an.»
Die Leute sperren sich selber ein
Manchmal erzählen ihr die Leute, was sie alles für Pläne nach der Entlassung hätten. Fantasien von der erfolgreichen Karriere oder dem grossen Geld, der Blick auf das, was man nicht habe, statt auf einen bescheideneren Anfang mit einer Ausbildung. «Die Leute können sich manchmal noch mehr einsperren, als sie schon eingesperrt sind», sagt sie.
Wie steht es um ihre Grenzen?
Es sei nicht alles nur Elend, man lache auch mit den Leuten, sagt sie. Aber: «Ich möchte nicht 100 Prozent als Gefängnisseelsorgerin arbeiten.» Als Seelsorgerin «sitze» sie – auch im Übertragenen Sinn mit den Leuten im «finsteren Tal». «Ich kann und will und sollte für mich, meine Umgebung und die anderen Menschen, die ich seelsorgerlich begleite, nicht im Elend sitzen bleiben. Mir passiert es glücklicherweise nicht oft, dass ich Geschichten, Taten, Begegnungen «mit nach Hause nehme». Auf dem Nachhauseweg und zu Hause habe sie ihre kleinen Rituale, die helfen, den Arbeitstag quasi abzuschliessen. «Das Gebet hilft mir, duschen, Kleider wechseln.»
Die Seelsorgenden können auch Supervision in Anspruch nehmen, bei Fällen, die besonders belastend sind. Regelmässig trifft sie sich mit anderen Gefängnisseelsorger:innen zum Austausch in der Gruppe. Die Kolleg:innen geben Rat aus ihrer Perspektive und so unterstützen sich gegenseitig. Dazu kommen Weiterbildungen. Und: «Ich schaue auch im Alltag gut zu meiner psychischen und physischen Gesundheit, mache Sport und Hobbys, bei denen ich sehr gut «abschalten» kann und nicht die ganze Zeit an die Insass:innen denken muss.»
Text und Bild: Matthias Brüllmann
Stichwort Seelsorge
Im mozaik waren bereits der Basler Gastroseelsorger und der Schifferseelsorger zu Gast. Aber was bedeutet dieser Begriff überhaupt und was unterscheidet Seelsorge von anderen Formen der psychischen und sozialen Betreuung?
Dinah Hess erklärt: «Die wohl wichtigste Eigenschaft der Gefängnisseelsorge ist das Seelsorgegeheimnis. Gleichzeitig ist es auch bereits ein grosser Unterschied zu anderen Beratungen. Gefängnisseelsorger:innen begleiten Menschen in schwierigen Lebenslagen, wenn sie von ihrem privaten Umfeld isoliert sind oder gar keins haben. Im Gefängnis sind die Menschen überwacht. Ihr Verhalten wird ‹protokolliert›. Bei der Seelsorge spüren die Insass:innen keinen Druck sich so oder so zu verhalten oder dies oder jenes nicht zu sagen. Die Gefängnisseelsorge schafft damit ein Stück Freiheit. Diese kleine Freiheit ist für viele Inhaftierte ungemein wichtig. Die Seelsorge hat keine eigenen bzw. von aussen gegebenen Ziele wie zum Beispiel Therapeut:innen. Wiederum ein Stück Freiheit. Denn nicht alle Menschen in Haft gehen wirklich freiwillig zur Therapie. Unser Auftrag kommt von den Leuten selbst, die wir aufsuchen. Ich würde sagen, das ist der Unterschied.»