Sprachgrenzen sitzen nur im Kopf

Mehrsprachige Buchrücken (Foto: Stefan Bohrer)
Mehrsprachige Buchrücken (Foto: Stefan Bohrer)

«Wetten, dass ein Buchstabe nicht aus einem mir bekannten Alphabet stammt? Dasselbe haben meine Lehrer:innen früher gedacht, als sie meine Hieroglyphen korrigierten.»

Ich kann seinen Namen nicht lesen. Der Jugendliche aus Afghanistan hat das Anmeldeformular ausgefüllt, mit einer schöne Schrift. Der junge Mann schreibt noch einmal und spricht – sehr deutlich – seinen Namen aus. Keine Chance, mein Hirn hat damit keine Erfahrung und kann deshalb auch akustisch keine Lücken füllen. Wie dies mit Hanspeter, Kevin oder Julien ginge. Ein konzentrierter Blick auf den Ausweis und der Fall ist klar: Navidullah! Wir müssen beide lachen. Auch mit Brille war es für mich nicht einfach.

Solche Situationen kommen vor in der GGG Stadtbibliothek St. Johann JUKIBU. Hier stehen Medien in über 50 Sprachen. Seit eineinhalb Jahren arbeite ich hier und geniesse diese Fülle an Ausdrucksmöglichkeiten, Geschichten und Begegnungen, die jeden Tag sehr spannend machen. Für mich repräsentiert dieser Ort die multikulturelle Realität in Basel.

Vorher war ich in einer anderen Filiale tätig. Hier ging es um Meier, Meyer oder Maier. Familiär, dörflich und es gab den einen oder anderen ausgiebigen Austausch – auf Mundart. Es ist ein ganz anderes Sprechen. So wie der Schnabel gewachsen ist, fliessen die Worte hin und her. Bisweilen zu schnell, zu unbewusst, zu emotional. Hochdeutsch oder eine andere Fremdsprache wirken als Katalysator. Zuerst denken, dann sprechen. 

«Die Sprach-App bleibt hängen. Pech, wenn das Handy sein Update während eines Beratungsgespräches macht.»

Eine Sprach-App ist eine super Erfindung. Ukrainisch? Kein Problem. Türkisch? Aber ja doch. Moment! Warum kann ich nicht von Ukrainisch zu Türkisch wechseln? Pech, wenn das Handy das Update während eines Beratungsgespräches macht und deshalb die App hängenbleibt. Also beschränken sich Erklärungen auf ein Minimum.

Meist kommen Menschen, die weder Landessprachen noch Englisch reden, in Begleitung. Es ist immer wieder herzerwärmend, zu erleben, wie sie aufleben, wenn sie verstehen. Manchmal übersetzen ihre Kinder, ein Nachbar, eine Freundin, manchmal ist es ein:e Brückenbauer:in der HEKS. Es braucht keine Perfektion. Die Verständigung ist zentral.

Ohne Möglichkeit der Verständigung fehlt ein wichtiger Teil vom Selbstverständnis. Ich hatte eine gehörlose Kundin, ebenso einen blinden Kunden. Gelegentlich kam auf beiden Seiten Ungeduld auf: Wieso werde ich nicht verstanden? Da war auch eine Angst, ein Ärger: Hält die an der Theke mich für blöd? 

«Mimik friert ein, Ausdrucksfähigkeit leidet, Gehör verabschiedet sich. Ein Satz kann auf Französisch beginnen und auf Englisch enden, dazwischen ein paar Worte aus der Fantasie.»

Vor 50 Jahren im Tessin wurde mein Bruder in der Primarschule für lernschwach gehalten. Er konnte halt nicht von jetzt auf gleich Italienisch. Das sind tempi passati. Was wäre wohl passiert, wenn er zu Hause nicht seine Sprache hätte lesen, hören oder sprechen können? Ich kann mir nur Verkümmerung vorstellen. An mir ging das Ganze vorbei, damals war ich zu klein für solche Brüche.

Um diese Brüche wenigstens abzumildern, entstand vor 30 Jahren eine Bewegung von direkt Betroffenen.

Die Bibliothek St. Johann JUKIBU ist eine kleine Arche Noah der Sprachen. Sie ist ursprünglich aus dem Verein JUKIBU entstanden und hat sich aus praktischen Gründen vor knapp vier Jahren der GGG Stadtbibliothek Basel angeschlossen.

Was passiert hier? Eine Auswahl:

Eltern erzählen Geschichten in ihren Sprachen. Kinder erzählen sich gegenseitig von ihren Sprachen und kommen mit der Schule oder in der Freizeit vorbei. In den Ferien werden Familiensprachen zur Entspannung gelesen. Es treffen sich freiwillige Sprachlerngruppen. Regelmässige Veranstaltungen in verschiedenen Sprachen  (auch im Tandem mit Deutsch) bauen Hemmschwellen ab.

Manchmal ist die Bibliothek eine der ersten Anlaufstellen nach der Ankunft in Basel. Sie ist ein Ort ohne Konsumations-, Lese- oder Ausleihzwang. Schon erlebt: Auf dem gemütlichen Sofa amüsiert sich eine Familie mit ihren Verwandten bei einem Live-Chat in dezenter Lautstärke.

Bin ich müde, passiert es: Die Mimik friert ein, die Ausdrucksfähigkeit leidet, das Gehör schleicht sich. Ein Satz kann auf Französisch beginnen und auf Englisch enden. Auch erfundene Worte kommen vor. Es hat etwas Surreales, fühlt sich aber sehr natürlich an. Aus vielen Sprachen um mich herum, baue ich eine neue zusammen. Sobald mein Kopf dazwischenfunkt, ist Funkstille.

Text: Susanne Wohlwender