Meine erste Begegnung mit Grenzen machte ich als Fünfjährige. Meine Mutter, meine Geschwister und ich versuchten über eine grüne Grenze ausser Landes zu kommen. Damals, als man aus den Ostblockstaaten nicht legal ausreisen durfte, war es verboten und galt als Republikflucht. Wir wurden von der Grenzpolizei erwischt. Sie schossen und liessen ihre Schäferhunde auf uns los. Zum Glück traf uns keine der Kugeln, und die Grenzwächter pfiffen ihre Hunde früh genug zurück. Wir wurden tagelang verhört und schliefen zusammengekauert auf Strohsäcken. Wir wollten zu meinem Vater nach Salzburg, der sich zwei Jahre zuvor zwischen Kühen in einem Viehtransport versteckt hatte und so fliehen konnte. Hätte man ihn bei der Flucht erwischt, wäre er zurück in die Zwangslager von Tito geschickt worden. Dieser regierte mit harter Hand und kommunistischen Gesetzen, raubte der Landbevölkerung das Land und liess arbeitstüchtige Männer Schwerstarbeit leisten. Ein Grossonkel meiner Mutter beschaffte uns zwei Jahre später ein dreimonatiges Besuchsvisum nach Österreich. Von diesem Besuch kehrten wir nicht mehr in die Heimat zurück, waren fortan staatenlose Flüchtlinge.
In meiner Arbeit als Erwachsenenbildnerin erlebe ich viele Menschen, die vor Krieg, Diskriminierung, Hungersnot oder aus anderen Gründen eine lange Flucht auf sich genommen haben. Ich gebe ihnen Deutschunterricht, unterstütze sie bei Behördengängen und Wohnungssuche, helfe ihnen zu verstehen, was bei Elternabenden gesprochen wird. Manchmal kann ich mit ihnen über ihre Flucht aus den Heimatländern sprechen, aber oft sind diese Menschen so traumatisiert, dass sie gar nicht darüber sprechen können.
Die 17-jährige Afghanin Fatime sollte, wie es in ihrer Heimat Brauch ist, verheiratet werden. Sowohl die Schwester ihrer Mutter als auch der Bruder ihres Vaters wollten ihre Söhne mit der schönen und klugen Fatime verheiraten. Sie hatte Glück gehabt, denn sie durfte entgegen allen Gesetzen der Taliban bis 17 zur Schule gehen. Fatime liebte keinen der beiden Männer, wollte später Medizin studieren. Sie wusste auch, dass die Heirat mit nahen Verwandten keine gesunden Kinder verhiess. Schnell verheiratete die Mutter sie mit dem Sohn ihrer Schwester. Als der Vater kurz darauf von den Taliban erschossen wurde und auch die Mutter mit dem Tod bedroht wurde, flüchteten Fatime, ihre Mutter, drei jüngere Schwestern und der ungeliebte Ehemann in den Iran. Im Iran bekam sie zwei Kinder. Als der Jüngste eineinhalb Jahre alt war, flohen alle mit Schleppern über die Berge an die türkische Grenze. Tagelang mussten sie in Verstecken warten, dann brachten Schlepper sie in die Türkei. In engen Autos ging es dann mit anderen Flüchtlingen an die Mittelmeerküste. Was eine vierstündige Überfahrt im Schlauchboot nach Lesbos werden sollte, wurde eine zweitägige stürmische Reise auf dem Meer. In Lesbos kamen wieder tagelange Grenzbefragungen. Dann kamen sie und ihre Familie für fünf Monate in ein Lager und endlich in die Schweiz, wo Fatime einen Onkel hat. Die Verhöre der Grenzpolizisten und der Asylbehörden dauerten tagelang. Schliesslich wurde ihnen allen Asyl gewährt, denn Todesdrohungen durch die Taliban als auch Zwangsverheiratung gelten in der Schweiz als Asylgrund. Sechs Monate in einem Lager und die anschliessende Scheidung von ihrem Mann machten Fatime und ihre Kinder zu glücklichen Menschen.
Der 33-jährige Uigure Jahar gehört zu einer verfolgten Minderheit in China. Nachdem er schon viele Grenzen illegal und mit vielen Ängsten passiert hatte, kam er an die serbische Grenze, wo er von einem Grenzsoldaten erwischt wurde. Er zeigte seinen Pass, den der Grenzbeamte immer wieder mit einem stummen Blick zu ihm studierte. Dann wies er ihm eine Zelle mit einer Pritsche und einer Wolldecke zu und versprach ihm, ihn am Morgen über die Grenze zu bringen. Jahar war misstrauisch, hoffte aber, der Grenzbeamte würde sein Wort halten. Nach monatelanger Flucht fühlte er sich in der Zelle sogar in einer Art Sicherheit. Bis zu dem Moment, als sein feines Gehör in der Dunkelheit ein Klappern der Tür hörte. Jemand schloss vorsichtig seine Zelle auf. Fluchtgewohnt schlüpfte Jahar unter der Wolldecke hervor und glitt unter das Bett. Umrisse von Stiefeln standen vor dem Bett, er hörte das Klappern einer Gürtelschnalle, spürte plötzlich eine Hand, die ihn hochriss. Er wehrte sich so gut er konnte, wurde dann aber brutal vergewaltigt. Nur leise und bruchstückhaft erzählt er mir seine Geschichte. Heute lebt er in einem Wohnheim für schutzbedürftige Menschen und nimmt die Maske nur zum Essen vom Gesicht. Vor Uniformierten hat er immer noch panische Angst.
Dragica Marcius