Warum gibt es überhaupt Sprachenvielfalt?

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Treffen von WTO-Delegierten in Genf. In den Kabinen im Hintergrund sitzen die Dolmetscher:innen, die die Verhandlungen simultan übersetzen. (© WTO/ Cuika Foto)

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Der Sprachwissenschafter Rudolf Wachter hat eine verblüffend einfache Erklärung. Christian Vontobel befragte ihn fürs mozaik. 

mozaik: Herr Professor Rudolf Wachter, weshalb gibt es eigentlich verschiedene Sprachen?

Rudolf Wachter: Das ist eigentlich eine ganz einfache Sache: Man nehme eine Gruppe von Menschen, die dieselbe Sprache sprechen, teile sie in zwei Hälften und schicke die eine Hälfte weg. Da sich Sprache immer entwickelt, egal ob äusserer Einfluss mitspielt oder nicht, wird sich die Sprache der beiden Gruppen im Laufe der Generationen in zwei verschiedene Sprachen aufspalten. Ich würde schätzen, dass nach 250 Jahren die Kommunikation zwischen Mitgliedern der beiden Gruppen noch gut funktioniert, nach 500 Jahren aber schon ziemlich schlecht und nach 1’000 Jahren gar nicht mehr. Dann können nur noch Sprachwissenschaftler die Verwandtschaft der beiden Sprachen feststellen, vor allem durch Beachtung des regelmässigen Lautwandels (in der einen oder der anderen Sprache oder in beiden), wie er z. B. zwischen Englisch und Deutsch in den Beispielen red – rot, dead – tot, bread – Brot, lead (Blei) – Lot, shred – Schrot zu beobachten ist.

Aus der Sprachentwicklung entsteht also die Sprachverwirrung, wie sie schon beim Turmbau zu Babel geschildert wird. In welchem Zeitraum verschwinden die Verwandtschaftsmerkmale gänzlich?

Nach etwa 10’000 Jahren ist sogar von solchen nicht mehr offensichtlichen Verwandtschaftsmerkmalen nichts mehr vorhanden, denn Sprachen verändern sich auch in ihrem Wortschatz, ihren Formen, Satzbildungsregeln, kurz: Auf lange Sicht bleibt kein Stein auf dem andern. Da kann man sich leicht vorstellen, wie fundamental und tausendfach sich die menschlichen Sprachen in den mindestens 200’000 Jahren, die unsere Spezies schon existiert – und zweifellos auch spricht – verändert haben, bevor sie ganz zufällig so geworden sind, wie sie jetzt gerade sind.

Sprachen als mündliches Kommunikationsmittel verändern sich also permanent; wie aber wirkt sich die geschriebene Sprache aus?

Es gibt Faktoren, die den Sprachwandel bremsen, der wichtigste davon ist die Schrift (die aber erst seit bescheidenen 5000 Jahren existiert). Denn wenn die Menschen zum Beispiel literarische Texte in ihrer Sprache lesen, die schon einige Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte alt sind, bauen sie den früheren Sprachzustand sozusagen in ihre aktuelle Sprachkompetenz mit ein. Was sie aus den schriftlichen Texten jedoch nicht herauslesen können, ist die genaue Aussprache in früheren Zeiten. Wir wären heute sehr befremdet, wenn wir Goethe oder Schiller sprechen hörten, denn so wie sie damals spricht das Deutsche heute niemand mehr aus. Von dem Deutsch Luthers und Zwinglis gar nicht zu reden. Daraus erklärt sich letztlich die merkwürdige, altertümliche Orthografie von Sprachen wie Englisch oder Französisch. Vor einigen Jahrhunderten entsprach sie der Aussprache noch ganz gut. Heute muss sie von uns mühsam gelernt werden, weil sie von der aktuellen Aussprache so stark abweicht. Trotzdem lieben die Menschen Orthografie-Reformen nicht, denn sie sind für die, die schon lesen gelernt haben, sehr verwirrend, und schlecht konzipierte Reformen (wie die des Deutschen 1996) sind erst recht ein Ärgernis.

Die biblische Erzählung von der babylonischen Sprachverwirrung spielt in grauer Vorzeit. Was sagt sie uns über das damalige Wissen von der Sprachenvielfalt und ihrer geografischen Ausbreitung?

Das Zusammentreffen mit Menschen, die wir nicht verstehen, weil sie eine andere Sprache sprechen, ist eine jahrzehntausendealte Erfahrung unserer Spezies, die ja zunächst weitgehend nomadisch lebte. Für solche merkwürdigen Beobachtungen aber haben wir schon immer Erklärungen gesucht. Die Geschichte vom Turmbau zu Babel ist dafür ein gutes Beispiel. Da die Sprachbarriere hinderlich und Fremdsprachenlernen mühsam ist, verwundert es nicht, dass man die «Sprachverwirrung» damals als Strafe Gottes gedeutet hat. Ich persönlich halte die Sprachenvielfalt eher für bereichernd. Zu beobachten, wie die eine Sprache etwas hocheffizient ausdrücken kann, wofür die andere eine umständliche Formulierung braucht, ist immer wieder faszinierend. So benötigen wir für die zwei lateinischen Wörter «Troia capta» viel längere Ausdrücke, wie «nach der Eroberung Troias» oder «nachdem Troia erobert worden war». Umgekehrt wüsste ich nicht, wie man auf Latein (oder in einer anderen Sprache, die ich kenne) das deutsche Sprichwort «Mitgefangen, mitgehangen» oder das italienische «traduttore, traditore» ebenso prägnant und elegant formulieren könnte. So formt die Sprache unser Denken mit, und neue Gedanken und Ideen verändern die Sprache, und zwar in jeder Sprachgemeinschaft ein wenig anders. Das finde ich gut, denn nichts ist besser für die Menschheit als die Vielfalt der Ideen.

Rudolf Wachter

Rudolf Wachter (geb. 1954) ist emeritierter Professor für Historisch-vergleichende Sprachwissenschaft an den Universitäten Basel und Lausanne. Neben der lateinischen, griechischen und indogermanischen Sprachwissenschaft, der antiken Epigrafik und der Geschichte des Alphabets beschäftigt er sich seit seiner Pensionierung auch mit der Geschichte der Landschaft Davos.