Wie reagieren Menschen auf heftige Umgestaltungen in ihrem Leben? Dragica Marcius hat fürs mozaik einige Menschen gefragt.
Esther (67): «Am meisten hat mich die Geburt meines dritten Kindes verändert. Ich hatte schon zwei Kinder und presste, schrie und stöhnte im Frauenspital, um meinem dritten Kind auf die Welt zu helfen. Es gab plötzlich Komplikationen. Das Kind steckte im Geburtskanal fest, ich war von den tagelangen Wehen zu Tode erschöpft und verlor das Bewusstsein. Plötzlich fiel ich in rasender Geschwindigkeit in ein tiefes schwarzes Loch. Ich stand vor einem leuchtenden Tor, streckte meine Hände aus und wollte unbedingt hinein, als eine ernste Stimme hinter mir dreimal rief: Schau zurück! Ich wollte aber nicht zurückschauen, sondern unbedingt ins Licht gehen und wehrte mich gegen diese Aufforderung. Eine mächtige Hand fasste plötzlich meine linke Schulter und drehte mich sanft aber entschlossen so um, dass ich zurückschauen musste. Ich realisierte panikartig, dass ich zurück ins Leben musste, wachte auf und sah mein neugeborenes Kind, das die Ärzte gerettet hatten. In diesem Moment war ich so glücklich, dass ich zurückgekommen war. Ich war überschwemmt von Tränen und unendlich traurig, dass ich nicht ins Licht gehen durfte und ich erlebte eine riesige Freude und Glück über mein gesundes Kind. Seit diesem Erlebnis hatte ich nie mehr Angst. Vor nichts mehr. Auch nicht vor dem Tod.»
Alberto (74): «Meine grösste Veränderung und damit mein zweites Leben begann vor ein paar Jahren. Ich fühlte mich damals krank, hatte Durchfall und musste mich ständig übergeben. Nach ein paar Tagen zwischen Bett und Bad war ich zu Tode erschöpft, dehydriert und schon in einer Art Delirium, in dem ich nichts mehr richtig wahrnahm. Ich begann, langsam in eine Art Bewusstlosigkeit hinein zu dämmern. Mir war nicht bewusst, wie ernst mein Zustand war und dass ich damals dem Tode nahe war. Eine Freundin fand mich, brachte mich ins Spital, wo man ein komplettes Nierenversagen feststellte. Die Ärzte nahmen an, dass die Ursache dafür in dem Genuss eines thailändischen Essens lag. In der Folge musste ich dreimal in der Woche für eine Dialyse (Blutwäsche) ins Spital. Das war eine lange Genesungszeit. Nach einem Jahr funktionieren meine Nieren einigermassen normal. Heute tanze ich wieder fleissig Tango und bin dankbar für die Medizin, die mir zu neuem Leben verholfen hat.»
Johann (59) «Als ich mit 20 Jahren meine Lehre als Handelskaufmann beendete, bekam ich ein Angebot, in einem Speditionsbetrieb in Kenia zu arbeiten. Anfangs interessierte mich dieses Angebot nicht. Ich wollte meine Karriere in einem grossen Handelsunternehmen machen und nicht in improvisierten, unprofessionellen oder korrupten Zusammenhängen tätig sein. Eine enttäuschte Liebe war dann der ausschlaggebende Funke, der mich nach Afrika brachte. Das afrikanische Leben krempelte all meine Vorstellungen und Lebenspläne um. Ich begann, die Lebensart der Afrikaner, deren Nöte, deren Armut und auch deren Überlebenswillen ernst zu nehmen. Heute engagiere ich mich stark in der Entwicklungshilfe und bin Präsident eines Fonds für Entwicklungszusammenarbeit, der Millionenbeträge für Projekte in der Dritten Welt zur Verfügung stellt.»
Tara (64) «Als ich nach einem abgeschlossenen Universitätsstudium an einer deutschen Universität im Rahmen einer Temporäranstellung an Weihnachten ein paar Tage frei hatte, fuhr ich 800 Kilometer weit zu einer Tagung an den Bodensee. Eine Freundin hatte mir diese Tagung zum Thema ‹Dreigliederung› empfohlen. Ich lernte dort den ehemaligen Kultusminister der Tschechoslowakei, Ota Šik, kennen; er sprach über die gerechte Verteilung von Staatsgeldern in Geistesleben, Rechtsleben und Wirtschaftsleben und vermittelte mir damit ein neues Bewusstsein für die Menschenrechte. Die Tagung veränderte mein ganzes Denken komplett. Ich begann, mich mit dem Gedankengut der Anthroposophie zu beschäftigen. Später zog ich wegen eines bekannten Philosophen, der Vorlesungen über das Thema Freiheit an der Universität Basel hielt, in die Stadt Basel. Ich studierte dann Körper- und Körperpsychotherapie, eröffnete eine eigene Praxis, in der ich mit Bewegungen die Erkrankungen von Menschen zu heilen versuchte. Ich traf meinen späteren Ehemann und vieles Schöne mehr. Diese Reise an den Bodensee veränderte mein ganzes Leben.»
Maria (49) «Meine grösste Veränderung erfuhr ich, als mein über alles geliebter Ehemann wegen einem unerkannten Herzklappenfehler plötzlich starb und ich von einer Sekunde zur anderen mit 39 Jahren Witwe wurde. Es war so ungerecht, dass er, der als Anwalt so viel für andere Menschen getan hatte, der mir ein wunderbares Gegenüber war, dem ich so vieles gemeinsam unternommen hatte, nun nicht mehr da war. Das stürzte mich in tiefe Depressionen. Ich fühlte mich oft völlig allein, vergrub mich in meiner Wohnung und ass kaum noch. Langsam tauchte ich durch gute Freunde, durch Therapien, durch Lesen und Schreiben wieder aus diesem tiefen Tal auf. Heute bin ich in verschiedenen Lese- und Schreibgruppen, habe selber ein Buch geschrieben, eine Ausstellung meiner künstlerischen Werke gemacht und fühle mich wieder lebendig.»
Francine (34) «Ich war 23 und mein erstes Kind war auf der Welt. Ich liebte es über alle Massen, aber plötzlich wurde mir damals klar: Nie wieder wirst du nur für dich allein entscheiden können und immer wird das Kind ein Teil deines Lebens sein. Nie wieder wirst du spontan nach Kopenhagen fliegen oder am Morgen um acht nach Paris fahren können, nie wieder wirst du nach durchtanzter Nacht um halb vier nach Hause kommen können. Ich würde niemals die Erlebnisse mit diesem Kind missen wollen, aber die unerbittliche, bis an mein Lebensende gültige Verantwortung war da und liess sich nicht mehr wegdenken. Das war damals ein grosser Schock, gepaart mit riesengrosser Freude über mein erstes Kind.»
Peter (48) «Meine grösste Veränderung begann, als ich meinen sicheren Job bei einer Grossbank aufgab. In der Bank herrschte ein gnadenloser Druck. Auch die Kollegen wurden durch ‹Messlatten›, an denen die Erfolge oder Misserfolge deutlich wurden, untereinander ausgespielt. Der Druck, möglichst bessere Vertragsabschlüsse als der Kollege zu bekommen, lastete schwer. Ständige Termine, tausend Besprechungen, Video-Konferenzen, Homeworking, Essen und Schlafen vor dem Computer – nirgends sah ich eine Besserung, die irgendwann eintreten würde. Die Vorgesetzten wollten so viele Anleger wie möglich an Land ziehen. Die Profite und die Renditen mussten gesteigert werden, damit die Bilanzen gut aussahen. Ich konnte einfach nicht mehr so weitermachen. Meine Frau war auch berufstätig, verdiente gut und unterstützte mich, den Schritt zu wagen und bei der Bank aufzuhören, ohne einen neuen Job zu haben. Das erste, was ich tat: Ich verbrannte bis auf zwei (für offizielle Anlässe) alle meine Anzüge. Danach war ich eine Zeit lang Hausmann und machte dann mit einem Kollegen eine Entrümpelungsfirma auf. Anderen Menschen zu helfen, ihr Chaos zu bewältigen, befriedigt mich zutiefst. Wir haben inzwischen acht Angestellte, aber jetzt ist für uns der Mensch und nicht der Profit an oberster Stelle.»
Katharina (54) «Ich war damals 29 Jahre alt und fuhr mit meinem Chef in dessen bequemen Auto zu einer Messe nach Frankreich. Es war nicht viel los auf den französischen Autobahnen, und wir redeten dies und das, als plötzlich vor uns ein Auto in rasendem Tempo aus der Ausfahrt einer Tankstelle auf die Autobahn zuraste. Mein Chef versuchte dem Rasenden auszuweichen, geriet an die linke Leitplanke und das Auto überschlug sich. Ich verlor das Bewusstsein und erwachte erst wieder, als ich in einem Dämmerzustand jemanden reden hörte. Später erfuhr ich, dass ich eine Woche im Koma gelegen hatte, dass beide Beine zertrümmert waren, dass ich einen Schädelbruch und noch etliche andere Knochen gebrochen hatte. Die Risse von Stimmbändern und Zungenbein waren am schlimmsten. Ich war in einer berufsbegleitenden Lehrerausbildung und nun würde ich nie mehr unterrichten können! Das war der grösste Schock! In dieser langsamen und geduldigen Arbeit am Genesungsprozess habe ich meine grösste Veränderung als Mensch erfahren.»
Text: Dragica Marcius; Illustrationen: Emma Bonney Brüllmann