Wie sieht gute Hilfe für Gewaltopfer aus?

Was bringt einen Menschen dazu, Gewalt anzuwenden? Und was hat das für einen Einfluss auf das Leben des Opfers? Jerusalem Ilfu sprach mit Jean-François Gächter.

Jean-François Gächter (Foto: Fotostudio im Brüggli Romanshorn)

Jean-François Gächter wurde 2003 in Basel-Stadt Opfer einer Gewalttat, als er eine junge Frau beschützen wollte und dabei eine schwere Schädel-Hirn-Verletzung erlitt. Der Weg vom Koma zurück ins Leben war lang. Heute nutzt Gächter die eigenen Erfahrungen, um Opfern von Gewalt zu helfen. Er engagiert sich auch für die Gewaltprävention. 

Sie setzen sich intensiv mit dem Thema Gewaltopfer auseinander. Was hat Sie dazu motiviert?

Meine persönliche Geschichte hat mich und mein Leben bis heute stark geprägt. Mit meiner Arbeit versuche ich, zu mehr Sicherheit und weniger Gewalt in der Gesellschaft beizutragen. Durch das Erlebte kann ich Betroffenen mehr Verständnis entgegenbringen und so auch mehr bewirken. Man hört immer mehr von Gewalttaten und neue Gewaltarten. Die Täter werden immer aggressiver. Früher wurde man niedergeschlagen, und das war es. Heutzutage tritt man häufig weiterhin auf das am Boden liegende Opfer ein. 

Welche Art von Unterstützung benötigen Gewaltopfer Ihrer Meinung nach am dringendsten?

Es kommt darauf an, welche Art von Gewalt das Opfer erlitt. Neben der medizinischen Versorgung ist eine therapeutische Begleitung durch Fachpersonen oft unumgänglich. Wichtig ist ein Umfeld, in dem man sich geschützt und sicher fühlen kann. 

Mein Weg vom Koma zurück ins Leben war steinig und schwer. Ich hatte das grosse Glück, dass mich meine Familie rund um die Uhr umsorgt hat. Das ging nur, weil meine Mutter damals ihren Job aufgegeben hatte. Nebst der Familie konnte ich auch auf Freunde und Bekannte zählen. 

Ich wüsste nicht, ob ich heute da wäre, wo ich bin, wenn sie diesen selbstlosen Einsatz nicht erbracht hätten. Dafür bin ich ihnen bis heute sehr dankbar.

An wen kann sich ein Opfer wenden? Und wo erhält es juristischen Beistand?

Für jeden Kanton ist mindestens eine Opferhilfestelle zuständig, wo Betroffene sich kostenlos, anonym und vertraulich beraten lassen können und Soforthilfe erhalten.

Welche Rolle spielen Präventionsmassnahmen in Ihrer Arbeit? 

Zuerst muss ein Bewusstsein für Gewalt entwickelt werden, dann kommt der Umgang mit Gewalt. Ich versuche, in Kursen den Teilnehmern möglichst viele wirkungsvolle präventive Massnahmen näherzubringen, damit man im Falle eines Verdachtes oder eines erfolgten Gewaltvorfalles rechtzeitig und angemessen handelt. Hier gilt die Regel: Selbstschutz vor Fremdschutz.

Rap für Respekt

www.rap-mit-respekt.ch

Eine der Leidenschaften von Jean-François Gächter ist der Rap (Sprechgesang). Er lässt diese Form in seine Workshops zur Gewaltprävention einfliessen und erklärt: 

Der Rap-Workshop ist eine sehr zeitgemässe Methode, um der Jugend Respekt und Toleranz mit Spass näher zu bringen. Wir schreiben zusammen Texte und suchen Wörter gegen Gewalt um mehr Verständnis zwischen den Menschen zu fördern. Die Idee dahinter ist, mit den Jugendlichen gleichzeitig den Umgang mit dem Sprechgesang, dem Reimschema, der Poesie, dem Rhythmus, dem Flow und der Betonung zu praktizieren. Schlussendlich sind die Jugendlichen stolz, wenn wir am Ende einen Song aus den geschriebenen Rap-Texten und den selbstgemachten Beats aufnehmen können. 

Bei meinem Vorfall wollte ich lediglich ein Mädchen in Schutz nehmen. Hätte ich bereits im Vorfeld mehr Präventionsarten gekannt, hätte ich womöglich anders und angepasster reagiert. 

In Ihrer Arbeit sind Sie sicherlich auf viele herausfordernde Ereignisse gestossen. Gibt es eines, das Ihnen besonders in Erinnerung geblieben ist?

Mir kommt die Geschichte von einem jungen Mann in den Sinn, der mit mir in der Reha war. Er wurde von Unbekannten auf die Gleise gelegt. Der Zug konnte nicht mehr halten und trennte ihm beide Beine ab. Die Täter sind unbekannt. Manchmal vergisst man aus Eigenschutz das Aussehen der Straftäter. In meinem Fall hatte ich das Glück, dass es genügend Zeugen gab, die Aussagen machen konnten.

Wie können wir als Gesellschaft besser auf die Bedürfnisse von Gewaltopfern eingehen? Wieso kommt es häufig zur Täter-Opfer-Umkehr? Und wo beginnt sie?

Leider werden Opfer häufig nicht ernst genommen, deshalb gibt es wenig Unterstützung. Opfer fühlen sich oft alleingelassen. So können Rachegefühle entstehen. Die Allgemeinheit beschäftigt sich mehr mit dem Täter, um eine Resozialisierung zu bewirken, die oft sehr viel kostet. Viele Opfer müssen sich selbst um eine Rehabilitation kümmern und werden kaum finanziell unterstützt.

Sind Frauen öfter als Männer von Gewaltdelikten betroffen?

Es kommt darauf an, ob im ausserhäuslichen oder häuslichen Umfeld. Im ausserhäuslichen sind zwei Drittel der Gewaltopfer männlich, im häuslichen überwiegen weibliche Opfer deutlich: Fast drei Viertel der Opfer sind weiblich.

Männer werden vor allem als Jugendliche und junge Erwachsene Opfer von Gewaltdelikten. In der Lebensphase zwischen 25 und 40 Jahren sind Frauen am stärksten von Gewalt betroffen.

Sind Frauen auch durch die Justiz genügend geschützt?Oder müsste man mehr tun?

Ja, in besonders gelagerten Fällen. In einigen Kantonen nimmt die Gewalt gegen Frauen weiterhin zu. Präventive Massnahmen spielen hier eine wichtige Rolle. 

Der Bund und die Kantone haben sich mit der Istanbul Konvention von 2018 für die Verhütung und Bekämpfung von häuslicher und sexualisierter Gewalt gegen Frauen und Kinder verpflichtet. Der Einsatz neuer technischer Hilfsmittel wie der Notfallknopf und die schweizweite 24-Stunden-Notrufnummer sollen zum Schutz der Opfer ausgebaut werden. Des Weiteren soll dafür gesorgt werden, dass genügend Plätze in den Frauenhäusern vorhanden sind. Leider hinken hier einige Kantone hinterher. Zu begrüssen ist, dass Lernprogramme zur Verhinderung einer Gewaltspirale angeboten werden. Dieses Angebot sollte aber in mehreren Sprachen gemacht werden. In Basel-Stadt und Baselland werden diese bereits in anderen Sprachen angeboten.

Gibt es wichtige Signale, die auf eine drohende Gewaltanwendung hinweisen? Wie kann man sich im Vorfeld schützen? 

Ob eine Drohung ein ernst zu nehmendes Warnsignal für beabsichtigte Gewalthandlungen darstellt, kann nicht isoliert beantwortet werden, sondern soll und muss immer im Kontext und unter Berücksichtigung der individuellen Merkmale der drohenden Person und ihrer Lebenssituation erfolgen.

Um sich im Vorfeld zu schützen, sollte man versuchen, die Umgebung aufmerksam wahrzunehmen. Hören Sie auf Ihr Bauchgefühl: Es warnt Sie instinktiv vor bedrohlichen Situationen. Halten Sie Abstand, entfernen Sie sich so früh wie möglich von bedrohlichen Situationen. Wenn man sich bedroht fühlt oder etwas nicht will: deutlich die Grenze aufzeigen „NEIN, STOP!» sagen. Ein aufgeladenes Natel kann in vielen Situationen sehr nützlich sein.

Gibt es abschliessend noch etwas, was Sie den Lesern mit auf den Weg geben möchten?

Das SIG bietet interessante Kurse an. Sehr wichtig finde ich diejenigen für Erste Hilfe und Selbstverteidigung. Wenn Du Interesse an meiner Geschichte hast, kannst Du gerne die Webseite (www.sig-online.ch) besuchen. Auch meine Seiten «Rap mit Respekt» und «Graffiti mit Respekt» sind online einsehbar (www.rap-mit-respekt.chwww.graffiti-mit-respekt.ch).

Jerusalem Ilfu

Hinweis

Jean-François Gächter engagiert sich in der Gewaltprävention an Schulen. Das Gespräch darüber finden Sie hier

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